Die Bauchentscheidung

DISZIPLIN Als ein Chemiker 1958 die Diätmargarine erfindet, will er Lebensmittel gesünder machen. Als ein Softwareentwickler 2013 aufhört zu essen, will er sich optimal ernähren. Aber wie schmeckt Perfektion?

■ Geld: Laut Statistischem Bundesamt gaben Deutsche im Jahr 2011 im Durchschnitt 312 Euro monatlich für Lebensmittel, Getränke und Tabakwaren aus. Das sind knapp 14 Prozent des Geldes, das sie für privaten Konsum zur Verfügung haben. Für Auswärtsessen zahlten sie im vergangenen Jahr 35,90 Euro pro Monat. Die meisten essen außer Haus, weil sie entweder keine Zeit oder keine Lust haben, selber zu kochen.

■ Zeit: 91 Prozent der Menschen in Deutschland stimmen einer Studie des Rheingold-Instituts zufolge dem Satz zu, Genuss mache Leben lebenswert. 46 Prozent geben an, dass es ihnen im stressigen Alltag immer seltener gelingt, etwas zu genießen. Unter denen, die das von sich sagen, sind deutlich mehr jüngere als ältere Menschen.

VON SEBASTIAN KEMPKENS

Wenn Rob Rhinehart sein Ziel erreicht hat, gibt es in jeder Küche einen zweiten Hahn neben dem Wasser. Öffnet man ihn, quillt eine braune Brühe aus dem Rohr. Von dieser Brühe ernähren sich die Menschen. Sie lassen sie in Becher laufen und schütten sie in sich hinein, morgens, mittags, abends. Sie betanken sich damit wie Autos und bezahlen die Brühe zusammen mit der Wasserrechnung. Salate, Pasta und Schnitzel essen die Menschen in Rhineharts Vision nur noch am Wochenende, wenn sie etwas genießen möchten. Unter der Woche sparen sie Zeit und Geld. Läuft alles wie geplant, könnte es in 20 Jahren so weit sein.

Rob Rhinehart ist ein 25-jähriger Amerikaner, die braune Brühe seine Erfindung. Er hat sie Soylent genannt. Das Versprechen: Ein Becher davon ersetzt eine Mahlzeit. Es gibt ein Video, in dem er ruhig und eindringlich über sein Projekt spricht, sich an die Zuschauer richtet: „Wir brauchen Ihre Hilfe, um die Zukunft des Essens zu gestalten.“ Rhinehart will eine Ernährungsrevolution, mit einem Drink, der aus knapp 40 verschiedenen Nährstoffen, Wasser und Öl besteht. Und in 20 Jahren soll das Ganze über Leitungen in alle Haushalte verbreitet werden, zumindest sagt er das mal so. Je höher die Latte liegt, desto besser. Rhinehart kommt aus einer Branche, in der in den vergangenen Jahren fast alles möglich schien.

Als er anfing, übers Essen nachzudenken, arbeitete er noch als Softwareentwickler für ein Start-up-Unternehmen im Silicon Valley in Kalifornien. Er hatte wenig Zeit und Geld, Kochen und Einkaufen erschienen ihm ineffizient, lästig, zu teuer. Erst rechnete er aus, welches Fast-Food-Menü die meisten Nährstoffe pro Dollar bietet. Nach sieben Tagen Hot-N-Ready Pepperoni-Pizza von Little Caesars fühlte er sich so elend, dass eine andere Lösung her musste.

Rhinehart ging an die Sache heran wie eine Unternehmensberatung. Er war der Berater, der menschliche Körper das Unternehmen. Braucht der Mensch Äpfel? Nein, antwortete er, der Mensch braucht Vitamine. Braucht er Brot? Nein, Kohlenhydrate. Milch? Nein, Proteine.

Nach einigen Wochen hatte er Soylent geschaffen. Um zu beweisen, dass es funktionierte, ernährte sich Rhinehart 30 Tage ausschließlich von dem Getränk. Noch heute, fast ein Jahr später, isst er richtige Gerichte nur, wenn er am Wochenende mit Freunden ausgeht. Eine Pizza ist für ihn wie ein Bier, unter der Woche trinkt er nicht.

Schon als Kind, erzählt er, fand er es absurd: Im Wohnzimmer zu sitzen, umgeben von moderner Technik, und einen Salat zu essen, Laub. Alles war optimiert, nur die Ernährung nicht.

Wenn man mit Rhineharts strengem Blick auf die Sache schaut, mag das erst mal stimmen. Anderseits: Wird nicht gerade die Ernährung unaufhörlich optimiert, weil Leute versuchen, sich über ihr Essen selbst zu verbessern?

In Deutschland verwendet mehr als die Hälfte der Menschen mindestens einmal im Monat Lebensmittel, die neben dem Sattmachen noch einen gesundheitlichen Zusatznutzen versprechen, zum Beispiel den Cholesterinspiegel zu senken. Das Geld, das für Functional Food ausgegeben wurde, hat sich zwischen 1995 und 2009 mehr als verzehnfacht, heute sind es in Deutschland etwa fünf Milliarden Euro jährlich.

Menschen wissen so viel über ihr Essen wie nie zuvor, sie kennen Omega-3-Säuren und die Haltungsbedingungen von Legehennen. Und deshalb verlangen sie viel. Der probiotische Joghurt soll gesund machen, Fair-Trade-Schokolade die Welt retten. Und der anrührbare Essensersatz Nahrungsmittelverschwendung für immer beenden.

In den USA ist Soylent, Rhineharts braune Brühe, erfolgreich, noch bevor sie auf dem Markt ist. Innerhalb weniger Wochen gingen Bestellungen im Wert von zwei Millionen Dollar ein, dazu steckten Investoren eineinhalb Millionen Dollar in Rhineharts Firma. Im Februar sollen die ersten Soylent-Pakete innerhalb der USA verschickt werden, ab Mitte des Jahres könnte der Versand nach Europa beginnen.

Die Soylent-Welt wirkt bizarr, als wäre sie weit entfernt, gerade vom gemütlichen Alltag deutscher Bio-Ei-Käufer zwischen Wochenmarkt, selbstgezogenen Kräutern und Sarah-Wiener-Büchern.

Aber wenn in dieser Bio-Welt der Großeinkauf ansteht, der Einkäufer vor dem Regal innehält und sich nach dem neuesten Skandal schon wieder fragen muss, ob das, was er gestern noch für richtig hielt, noch richtig ist – wäre er dann heimlich dankbar für ein Produkt, dass ihm ein paar Entscheidungen abnimmt?

Anders gefragt: Wenn es ein Gericht gäbe, dass die Klimakatastrophe lösen, den Welthunger beseitigen und auch noch gesund machen würde – auf wie viel Genuss wären Sie bereit zu verzichten?

Würden Sie Margarine essen statt Butter?

Hamburg-Altona. Im neunten Stock des Altenheims Augustinum blickt Karl-Friedrich Gander aus dem Fenster. Unten liegt der Elbstrand, Fischrestaurants auf Schiffen dümpeln im Wasser. Oben bollert die Heizung, auf einem Glastisch steht Tee. Wie die Vernunft begann, den Genuss zu regieren: Um das zu verstehen, ist Ganders Wohnzimmer ein guter Ausgangspunkt.

Es ist nämlich so, dass Karl-Friedrich Gander diesen Prozess mit angestoßen hat: Er hat die Diätmargarine erfunden, das erste industrielle Massenprodukt, dass Menschen vor allem gekauft haben, weil es sie angeblich gesünder macht. Der Ursprung einer Entwicklung, die bis zu Rob Rhinehart reicht.

Gander war lange so etwas wie der deutsche Margarine-Botschafter. In den 1950er Jahren leitete er die Entwicklungsabteilung der Margarine-Union von Unilever, einem Konzern mit inzwischen rund 180.000 Mitarbeitern in über 100 Ländern.

Hört man ihm zu, versteht man, wie es dazu kommen konnte, dass die optimale Ernährung ein solches Geschäft wurde, obwohl die Wirkung der Produkte meist umstritten ist. Der Rentner und die Margarine sind eine Fallstudie darüber, wie ein Ernährungstrend entsteht. Wie er gemacht wird.

Gander setzt sich. Am Tisch hat sich ein Pressesprecher von Unilever schon Tee eingeschenkt. „Im Sinne der Transparenz“ wollte er unbedingt bei dem Gespräch dabei sein. Es geht hier darum, eigene Wahrheiten zu verteidigen, auch das zeigt diese Geschichte.

Noch bevor die erste Frage gestellt ist, hebt Gander den Zeigefinger. „Ich habe etwas für Sie herausgesucht, junger Mann“. Er reicht zwei Blätter. Erstens: seine Sicht der Dinge, eine knappe Seite Text „Zur Frühgeschichte des ‚Margarine-Instituts für gesunde Ernährung‘ und des Wieland-Preises“. Zweitens: Sein Lebenslauf, „Curriculum Vitae, Karl-Friedrich Gander, geb. 19.04.23“. Ehrenmitgliedschaften, eine Honorarprofessur, das Große Bundesverdienstkreuz. „So, jetzt können Sie anfangen und mich darüber ausfragen, wie alles anfing.“

Alles: Dass die Zeitungen voll waren mit Berichten über Cholesterinwerte, gesättigte und ungesättigte Fettsäuren. Dass sich Männer, die den Weltkrieg überlebt hatten, davor fürchteten, an der „Manager-Krankheit“ zu sterben, dem Herzinfarkt. Und dass dann eine Lösung gefunden wurde, immer mehr Deutsche umstiegen von Butter auf Margarine. „Das“, sagt Gander, „war eine tolle Zeit. Mir hat das irgendwie Spaß gemacht.“

Die Margarine ist entstanden, weil Napoleon III. ein haltbareres Produkt als Butter suchte, um seine Truppen damit zu versorgen. Und auch Ganders Geschichte von der Diät-Margarine fängt mit Krieg an. Gander hat es sogar in seinem Lebenslauf vermerkt: Im Zweiten Weltkrieg ist er Soldat in Nordafrika, später im Osten. Im Krieg, sagt er, gab es immer nur Margarine, jeden Tag. Seit dem Ersten Weltkrieg hatten die Deutschen so viel Margarine gegessen, dass sie sie nicht mehr sehen konnten.

Immer mehr wollen gut essen. Aber was ist gut?

Als Gander zurückkommt und anfängt, technische Chemie zu studieren, wollten die Leute endlich wieder Butter. „Das war die Fresswelle“, sagt Gander. Es dauert nicht lang, bis die ersten dick werden vom Fett und umzudenken beginnen. In einer Ernährungszeitschrift heißt es einige Jahre später unter dem Titel „Gesundheitsmarketing: Die becel-story“: „Nach der ‚Freßwelle‘ stehen wir am Beginn einer Gesundheitswelle, deren Auswirkungen und Zielrichtungen sich heute erst erahnen lassen.“

Vor allem die 40- bis 59-Jährigen machten sich 2013 deutlich mehr Sorgen um ihre Gesundheit als noch einige Jahre zuvor, zeigen Studien. Die Zahl derjenigen, denen gutes Essen wichtig ist, ist in Deutschland in den vergangenen Jahren leicht gestiegen. Aber die Frage ist: Was versteht man heute unter gutem Essen? Möglichst viele mehrfach ungesättigte Fettsäuren? Und was soll dabei optimiert werden? Der Körper? Das Wohlbefinden? Das große Ganze?

In dem Film „Eden“ mit Charlotte Roche spielt Josef Ostendorf einen Mann namens Gregor, einen der besten Köche der Welt. Seine Küche ist betörend gut, sie wirkt aphrodisierend. Gern würde man ihn mal bei einem ausgedehnten Abendessen mit Rob Rhinehart sehen. Gregor ist ein Typ, der heute selten geworden ist. So selten, dass er Stoff für Spielfilme bietet: Er ist ein hemmungsloser Genießer.

Am Anfang des Films sitzt er als Kind im Schwimmbad am Beckenrand und isst Pommes frites, während die anderen im Wasser spielen. Dann sieht man ihn als erwachsenen Mann in der Küche. Er reißt eine Ente auseinander, lutscht an dem rohen Fleisch, beißt in den Parmesan, zerquetscht Tomaten zwischen den Händen. Aus dem Off sagt seine Stimme: „Ich habe nie gevöllt, Genuss entsteht nur aus Mangel. Aber ich wollte schon immer einen Bauch haben.“

Gregor will eins werden mit den Zutaten, egal ob gesund oder nicht. Kochen und Essen bedeutet für ihn Kontrollverlust, Ekstase. Dass Gregor Margarine essen würde, ist quasi unvorstellbar.

Den Übergang von der Fress- zur Gesundheitswelle kann man grob auf 1958 datieren, da bringt Karl-Friedrich Gander die Diätmargarine auf den Weg. Er ist 35 und hat gerade promoviert. Ein junger, ehrgeiziger Chemiker, gleich nach dem Studium eingestiegen bei Unilever, wo er seit einem Jahr die Entwicklungsabteilung leitet. Gander liest viel, er hat mehrere amerikanische Fachzeitschriften abonniert.

Eines Morgens stößt er in einem dieser Magazine auf einen Forschungsbericht Ancel Keys. Der Amerikaner forschte schon länger zu der Frage, wie Lebensstil und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zusammenhängen. Keys hatte 1952 seine größte Studie begonnen: knapp 13.000 Männer in sieben Ländern. Schnell konnte man sehen, in welche Richtung das Ganze gehen würde. Je fetter jemand isst, desto höher steigt der Cholesterinspiegel und desto größer wird das Herzinfarktrisiko. Knapp zehn Jahre nach Studienbeginn, 1961, schaffte es Keys es mit dieser Erkenntnis aufs Cover der Times.

Gander hatte schon vorher erkannt, welche Schlagkraft die Ergebnisse des Amerikaners für die Margarine-Industrie besaßen. „Niemand auf der Welt verstand damals so viel von Margarine wie ich“, sagt er. Der junge Chemiker war ein Mann der Wirtschaft, noch immer zitiert er gern den Satz seines ersten Professors. Er stellt dann die Teetasse ab, beugt den Oberkörper langsam vor und sagt: „Warum gibt es eine chemische Industrie? Für Pharmaka? Nein.“ Nach einer Pause stößt er es aus: „Damit Geld verdient wird.“

So macht sich Gander daran, Keys Erkenntnisse in ein Produkt umzusetzen. Eine Margarine, die arm sein sollte an gehärtetem Fett und Kokosfett, dafür reich an Ölen und ungesättigten Fettsäuren. Erst entsteht das Produkt Flora, „mein Baby“, sagt Gander. Dann folgt Becel pro activ, die erste hierzulande vertriebene Diätmargarine zur Senkung des Cholesterinspiegels.

Der Becel-Gedanke breitet sich aus

Die Becel-Vermarktung ist vom ersten Tag an ein Gesundheitsmanifest. Unilever schaltet Anzeigen mit langen Informationstexten und die Margarine wird erst nur in Apotheken vertrieben. Das Ziel: Ärzten ein Produkt zur Bekämpfung eines erhöhten Cholesterinspiegels zu liefern. Es funktioniert. 1961 hielten nur 25 Prozent der Ärzte Margarine für gesünder als Butter. 1971, als Becel aus den Apotheken in die Supermärkte kam, waren es schon gut 40 Prozent.

Gander gründet damals mit anderen das „Margarine-Institut für gesunde Ernährung“, offiziell ein Forschungsinstitut. Warum sollte das Wissen über das Essen und seine Bestandteile, über den Körper und seine Bedürfnisse nicht genutzt werden, um nur das Beste aufs Brot zu bekommen? Tatsächlich, sagt Gander, „war das ja kein Forschungsinstitut, das waren drei Männekens“. Dafür gibt es einen Preis für gute Wissenschaft, den Wieland-Preis. Das Ziel, sagt Gander, war es, „den Durchbruch der Margarine richtig zu zementieren“.

Es ist vor allem der Durchbruch einer Idee: Gesundheit ist käuflich, jeden Tag.

Gander erinnert sich, wie Ancel Keys einem Volkspädagogen gleich durch die Welt tourte und von der Mittelmeer-Diät erzählte, von Olivenöl, Salat, Fisch und Rotwein. Langsam breitete sich der Becel-Gedanke aus, auch wenn es Gegenwellen gab. Tiefkühltrends, Fettorgien. Irgendwann kamen dann noch die Menschen, die Butter essen, weil sie so ein altes, natürliches Lebensmittel ist im Gegensatz zur industriellen Margarine. Aber zum Butter-Frischkäse-Brot dann bitte gern einen ACE-Drink. Und das Power-Müsli vorweg.

In seinem Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“, schreibt der österreichische Philosoph Robert Pfaller, Lebensmittel seien die „Requisiten für die Teilhabe an einem bestimmten Lebensstil“ geworden. „Bestimmte Äpfel sind nicht nur Obst, sondern Versprechen von gesundheitsbewusstem Leben oder sogar von ökologischem Protest.“ Zugleich würden „Dinge des Genusses“ wie fettes Essen oder Alkohol mehr und mehr geächtet. Sie könnten verschwinden, warnt Pfaller. „Ohne die Unvernunft unserer Ausgelassenheit, Großzügigkeiten, Verschwendungen, unserer Geschenke, Feierlichkeiten, Heiterkeiten und Rauschzustände wäre unser Leben eine abgeschmackte Abfolge von Bedürfnissen und – bestenfalls – ihrer stumpfen Befriedigung.“

Verlangen nach. Lust auf. Genuss scheint allein über die Sinne zu entstehen. Wenn die Zunge etwas liebt, dann wirkt dieser Moment, als sei der Kopf gar nicht im Spiel. Ein Gefühl, das sich nicht kontrollieren lässt. Eine Bauchentscheidung, wie Liebe auf den ersten Blick.

Aber sogar Verlangen funktioniert nur scheinbar kopflos. Es fühlt sich an, als kämen es ganz von innen. Dabei haben wir, ohne es zu merken, schon lange gelernt, welche Körper und welche Signale überhaupt begehrenswert sind. Genauso ist der Geschmack trainiert.

Unter Kontrolle sind wir also in jedem Fall. Und viele fühlen sich gut dabei.

Salate, Pasta und Schnitzel essen die Menschen in Rob Rhineharts Vision nur noch am Wochenende

Leute wie die 25-jährige Jurastudentin, die zugenommen hat, als sie aufhörte zu Rauchen. Und das Gefühl hat, ihre Ernährung besser in den Griff zu bekommen, seit sie auf ihrem Handy eine App hat, die Noom heißt und mit deren Hilfe sie jeden Tag aufzeichnen kann, was sie gegessen hat und was sie noch essen darf. Die App erfüllt für sie eine ähnliche Funktion wie früher Becel: Sie gibt ein Ziel vor, reduziert die Möglichkeiten, setzt eine Grenze.

Oder Leute wie die 30-jährige Kulturwissenschaftlerin, die sich vegan ernährt und wegen des Regenwalds versucht, auf Palmöl zu verzichten. Im Restaurant und am Kühlregal bedeute das manchmal Kontrollwahn, sagt sie. Aber beim Ausprobieren neuer Zutaten, überhaupt beim Nachdenken über Essen, sei irgendwie auch etwas entstanden. Eine neue Genussebene.

Oder wie der 52-jährige Chemiker, der abnehmen will und jetzt ein „Programm“ verfolgt: Nur alle zwei Tage essen und an den anderen Tagen weniger. Der beim Abendessen aus dem Zimmer gehen muss, weil der Duft ihn wahnsinnig macht, aber trotzdem von seinem Programm spricht, wie von einer interessanten, intellektuellen Strömung, die er gerade entdeckt hat.

Die Gesundheitswelle hat inzwischen eine Eigendynamik bekommen. Sie braucht ihr Pionierprodukt, die Margarine, nicht mehr. Zwar gehöre sie weiter zu den Kernprodukten des Konzerns, aber viele Verbraucher griffen wieder zu Butter, sagte der Finanzchef von Unilever kürzlich. Die Margarine ist ein Sorgenkind des Konzerns. Gander freut das nicht gerade: „Dass die Firma jetzt Rama mit Butter auf den Markt wirft“, sagt er fast angeekelt, „enttäuscht mich doch. Jeder weiß, dass Butter Gift für den Cholesterinspiegel ist.“

Dabei ist genau um diese Gewissheit inzwischen ein Meinungsstreit entstanden, der ausgefochten wird in Gerichtssälen und in Fernsehstudios weltweit.

Dass gesättigte Fettsäuren schädlich sind und mit dem Cholesterinspiegel das Herzinfarktrisiko erhöhen, wird längst heftig bestritten. Der Wissenschaftler Ancel Keys, seit 2004 tot, aber auch heute noch Gewährsmann Ganders, steht im Zentrum eines Streits. Ihm wird vorgeworfen, seine Graphen manipuliert zu haben. Nach Keys gab es viele weitere Untersuchungen und Unilever allein hat mehrere Dutzend Studien dazu vorgelegt, dass Becel pro activ den Cholesterinspiegel senken kann. Aber Kritiker sagen: Keine Studie konnte den Zusammenhang zwischen gesättigten Fettsäuren, Cholesterin und dem Infarktrisiko wirklich beweisen.

Fertigessen zum Anrühren gegen die Verwirrung

Aseem Malhotra hat sich vorgenommen, den „Mythos“ von Diätmargarinen wie Becel zu zerstören. Malhotra arbeitet als Kardiologe in einem Londoner Krankenhaus und sieht jeden Tag, was falsche Ernährung und falsche Diäten mit Menschen machen. Deshalb entschied er, etwas zu unternehmen.

Er wollte herausfinden, wie groß der Zusammenhang zwischen gesättigten Fettsäuren und einem erhöhten Cholesterinspiegel tatsächlich ist. Seine Erkenntnis: Zu behaupten, ein niedriger Cholesterinwert verringere das Herzinfarktrisiko, sei „schlechte Wissenschaft“. Das Gegenteil sei der Fall. Wer stark auf gesättigte Fettsäuren verzichte, erhöhe sogar das Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben. Malhotra veröffentlichte seine Ergebnisse in einem Fachmagazin, der britische Guardian griff sie auf und titelte, Butter und Käse seien laut einem Kardiologen besser als Margarine. Ein Mythos sei gebrochen.

Seit seinem Artikel ist Malhotra Dauergast in Talkshows, kürzlich wurde er von einer Zeitschrift als einer der Pioniere der Gesundheitsvorsorge 2013 ausgezeichnet. Darüber, dass Unternehmen Menschen dazu verführen, Margarine statt Butter zu essen, könnte Malhotra ewige Monologe halten. Überhaupt habe eine noch unveröffentlichte Herzstudie aus Sydney gezeigt: Patienten, die Butter durch Margarine ersetzt haben, hätten zwar ihren Cholesterinspiegel um 13 Prozent gesenkt. Aber ihr Herzinfarktrisiko sei gestiegen – offenbar, weil zu viele der eigentlich gesunden Omega-6-Fettsäuren die Arterien beschädigen.

Der Streit den Malhotra und andere Experten austragen erklärt letztlich auch den Erfolg Rob Rhineharts in den USA. Soylent wirkt umso attraktiver, je größer die Verwirrung um die Frage ist: Was muss ich eigentlich essen, um gesund zu bleiben? Und was, wenn es mir nicht nur um meine Gesundheit geht, sondern wenn ich auch sonst möglichst wenig falsch machen will: was die Umwelt angeht, die Kaffeebauern, die kommenden Generationen? In Finnland wird schon an einer Bioalternative zu Soylent aus Pecanüssen, Spinat und Johannisbeeren getüftelt. Der Slogan lautet dort: Essen vereinfacht.

An Soylent kann man sehen, was passiert, wenn Menschen an den Abendbrottischen aufhören, bei diesen Fragen mitzureden. Wenn sie sich zurücklehnen und die Suche nach dem, was wir zum Leben brauchen, der Industrie überlassen.

Den Blogeintrag, in dem Rob Rhinehart über seinen ersten Monat mit Soylent schreibt, bebildert er mit einer Marktszene. Obststände links und rechts, Kisten mit reifen Bananen und Mangos. „When I stopped Eating Food“ heißt Rhineharts Text. Wie ich aufhörte Essen zu essen.

Hier geht es um Nahrung, sagt Rhinehart damit. Nicht mehr um Essen.

Und vielleicht macht das am Ende den Unterschied.

Sebastian Kempkens, 25, sonntaz-Autor, hat die Recherche auch auf dem Geburtstag seiner Oma begleitet. Er traf lauter Becel-Fans