Vom Ende der Euphorie, die nie da war

BUNDESLIGA Die Schiedsrichtergilde kämpft mit der Regelauslegung, Borussia Dortmund mit Mangel an Respekt und die Fanprojekte mit alten Problemen. Drei sorgenvolle Schlaglichter auf den Rückrundenstart

Wann ist eine Notbremse eine Notbremse?

Vor einer selbstkritischen Analyse konnten sich die Schiedsrichter diesmal nicht mehr drücken. Eine „akribische, intensive und lückenlosen Aufarbeitung relevanter Spielsituationen der Hinrunde“ mahnte der DFB-Schiedsrichterabteilungsleiter, Lutz Michael Fröhlich, auf Mallorca an. Auf die wintersonnige Baleareninsel hatten sich die 80 Schiedsrichter und Assistenten aus den beiden höchsten deutschen Fußballligen vor dem Rückrundenstart verzogen.

Dass im ersten Schiri-Wintertrainingslager der Ligageschichte keine ausgelassene Urlaubsstimmung aufkam, dafür war Reiseleiter Herbert Fandel verantwortlich. Der Vorsitzende des DFB-Schiedsrichter-Ausschusses hatte in der Hinrunde „ungewöhnliche und selten zu sehende Einzelfehler“ ausgemacht.

Zum Beispiel Stefan Kießlings Phantomtor am 9. Spieltag in Hoffenheim. Die anschließende fast hysterische Diskussion darüber kam der Schiedsrichtergilde gerade recht. Sie verdrängte nämlich einige merkwürdig anmutende Entscheidungen aus dem öffentlichen Bewusstsein, die bis dahin bereits gefallen waren. Gleich am dritten Spieltag wurde ein neuer Rotrekord aufgestellt. Acht Feldverweise sprachen die Schiedsrichter aus.

Für viel Aufregung sorgte zudem die Interpretation des Handspiels. „Ich weiß nicht mehr, was Hand ist“, erklärte Bayer Leverkusens Coach Sami Hyypiä verzweifelt. So mancher Referee wohl auch nicht. Fandel stellte sich in dieser Regelauslegung vor seine Schützlinge. Im „ZDF-Sportstudio“ lieferte er die Erklärung dafür nach: Dass sich verteidigende Spieler immer breiter und breiter machen, sei ihm aufgefallen. Wenn sie die Arme dann vom Körper wegstreckten, dann sei das bei Ballberührung ein absichtliches Handspiel. Eine klare Antwort!

Doch wann ist eine Notbremse eine Notbremse? Hier scheint der Ermessens- und Toleranzbereich fast willkürlich bestimmt zu werden. In der Hinrunde fehlte die klare Linie, und es gibt wenig Hoffnung, dass sich das jetzt noch ändert. Große Verwirrung gab es auch um die Auslegung der Abseitsregel. Die Fifa hatte vor der Saison den Tatbestand des „Spielereingriffs“ neu geregelt. Das aber muss für die Bundesliga noch präzisiert und vor allem vereinheitlicht werden. Die Probleme in der Abseitsregelumsetzung waren und bleiben damit offenkundig.

Wie souverän man Spiele leiten kann, bewies indes Manuel Gräfe bei dem brisanten Duell zwischen Dortmund und München am 13. Spieltag. Gräfe war einer der besten Akteure auf dem Platz, er traf in sehr kurzen Zeitspannen die richtigen Entscheidungen, glänzte durch Spielnähe und Vorausdenken und ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Das war schon ganz nah am Schiedsrichter-Idealbild.

TORSTEN HASELBAUER

Wer hat noch Angst vor der gelben Wand?

Vermutlich wusste Tobias Werner genau, was er tat, als er herausfordernd auf die Partie seines FC Augsburg in Dortmund vorausblickte. Mit einem Punkt beim BVB könne man leben, erklärte er, aber eigentlich laute das Ziel, drei Zähler aus dem Westfalenstadion zu entführen. Schließlich haben die Dortmunder zuletzt drei Heimspiele am Stück verloren. Die offenen Wunden des kommenden Gegners zu bearbeiten ist eine klassische Strategie im Spitzensport, und sie zeigte prompt Wirkung.

Exakt dieser abnehmende Respekt vor dem BVB sei „das wichtigste Thema“ dieser Saisonphase, erwiderte Jürgen Klopp auf die Provokation. Die Konkurrenz hat keine Angst mehr vor der gelben Wand und den Spielern, die rennen bis zum Umfallen. Das ist eine fatale Entwicklung, denn eigentlich wolle er von „niemandem hören, wenn er nach Dortmund fährt, dass er drei Punkte holen könnte“, verkündete der Dortmunder Trainer.

Der Übermut der Konkurrenz ist ein Schaden, den das missratene Hinrundenfinale mit nur vier Punkten aus sechs Partien hinterlassen hat. Und ob alleine die Genesung der vielen verletzten Spieler eine neue Phase des Erfolges initiieren kann, ist völlig unklar. „Es wird nach langer Zeit mal wieder enge Entscheidungen“ bei der Zusammensetzung der Startelf geben, meinte Klopp zwar; ob sich so das beschädigte Selbstvertrauen reparieren lässt und die vielen Nachlässigkeiten aus dem Spiel eliminiert werden können, wird sich erst in den kommenden Wochen zeigen.

Immerhin freute Klopp sich zuletzt über eine Rückkehr der „Leichtigkeit in vielen Momenten“, und glaubt, dass die Mannschaft ein „neues Gefühl für die Notwendigkeit einiger Defensivmaßnahmen entwickelt“ habe. Klar ist aber auch, dass der BVB nie mehr so sein wird wie in der zauberhaften Erfolgszeit zwischen 2010 und 2013, als das Team von Euphorie getragen zum aufregendsten Projekt des europäischen Fußballs und Pionier avancierte. Denn solche Kräfte lassen sich nicht konservieren, und so sind sie beim BVB gerade dabei, sich mit der hässlichen Erkenntnis anzufreunden, dass ein innovativer Fußball und ein brillanter Trainer nicht ausreichen, um mittelfristig mit den Giganten aus Madrid, London und München mitzuhalten. Immer noch lassen sich die besten Spieler weglocken, und dass die Neuzugänge immer so gut passen, wie in den vergangenen Jahren ist keineswegs garantiert.

Klopp hat längst erkannt, dass sich ein paar Dinge grundlegend ändern: „Wir werden uns nach einer langen Zeit in der Rolle des Gejagten mal wieder mit der Jägerrolle anfreunden müssen“, sagte er. Und es sind nicht mehr nur die Bayern, die gejagt werden, sondern auch Leverkusen, Mönchengladbach und vielleicht bald auch der VfL Wolfsburg. DANIEL THEWELEIT

Wie gewaltfrei kann der Fußball sein?

Bernd Heinen, Leiter des Nationalen Ausschusses Sport und Sicherheit, hatte gerade das Podium des Fankongresses erklommen, als es aus ihm herausplatzte. Vor einem Testspiel von Schalke beim 1. FC Köln sei es zu einer schweren Auseinandersetzung gekommen. Eine Person würde „die Nacht vielleicht nicht überleben“. Das hatte schon eine andere Qualität, als zu vermelden, dass jemand schwer verletzt sei.

In der Gänze waren die knapp 800 Teilnehmer des Kongresses am vergangenen Samstag in Berlin über die Nachricht aber keineswegs derart geschockt, wie einige Medien danach suggerieren wollten, zu fad war der Beigeschmack von Heinens Auftritt. Die WAZ-Gruppe vermeldete den Vorfall bereits eine Stunde vor der Podiumsdiskussion. Was die Teilnehmer beschäftigte, war vor allem der erwartete mediale Backlash im Falle eines Todes.

Seit Jahren wird vom Fußball erwartet, er solle eine Insel der Glückseligkeit und totaler Sicherheit sein. Von dieser verzerrten Wahrnehmung profitieren vor allem die „roten Sheriffs“ Boris Pistorius und Ralf Jäger, SPD-Landesinnenminister in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, die die Eindämmung der Gewalt im Fußball zu ihrem Hauptziel erklärt haben.

Dabei kam es beispielsweise allein in Berlin am Kongress-Wochenende in Diskotheken zu zwei Vorfällen mit schweren oder lebensgefährlichen Verletzungen. So sieht die gesellschaftliche Realität aus; warum soll gerade der Fußball die Ausnahme sein? Auch Fanforscher Gunter Pilz gibt sich der Illusion totaler Sicherheit nicht hin. Im Interview mit dem Kölner Express relativierte er die Vorfälle und äußerte, dass es unrealistisch sei, davon auszugehen, dass es nie einen Toten geben werde. Im Vergleich zu den 80ern und 90ern lebe man gar „in einem Paradies“.

So wundert es nicht, wenn der FC Schalke nach dem Gießkannenprinzip fast 500 Stadionverbote verhängt, um aufs letzte Ruhrpott-Derby zu reagieren, auch gegen Leute, die nicht vor Ort waren. Oder wenn in Hannover acht Wohnungen wegen des bloßen Verdachts der Verwendung von Pyrotechnik durchsucht werden, obwohl nicht einmal klar ist, ob es im konkreten Fall überhaupt eine Straftat ist.

War der Zeitpunkt der Schlägerei in Köln Zufall oder ein bewusstes Signal an den Fankongress? Fakt ist, dass es immer mehr kleine, aber gut organisierte Gruppen gibt, die sich dem Dialog mit Verbänden und Behörden verweigern. Seitdem die Gespräche über die Legalisierung von Pyrotechnik vor zwei Jahren gescheitert sind, gab es für Fans keine bahnbrechenden Verbesserungen mehr. Im Gegenteil: Nacktzelte, längere Stadionverbote und die Diskreditierung der Fanprojekte wie in Dresden sind keine Entspannung. Die Zeichen stehen auf Eskalation.

GERALD MANDER