Angst, Blüten, Zauber

Viele Größen der deutschen Nachkriegsliteratur, eine sehr lebendige, hoffnungsvolle jüngere deutsche Gegenwartsliteratur, viel Indien und natürlich Philip Roth und John Updike: Eine naturgemäß unvollständige Vorausschau auf den Bücherherbst

Glaubt man Helmut Höge, wird die „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ eines der Bücher der Saison

von GERRIT BARTELS

Es könnte ein problematischer Bücherherbst werden, nimmt man die neuen Bücher unserer Vorzeigeessayisten und Großschriftsteller zum Maßstab. Hans Magnus Enzensberger ist ja für seine Erzählung „Josefine und ich“ schon hinreichend abgestraft worden, und tatsächlich fällt es schwer, „Josefine und ich“ gegen den Trend außergewöhnlich, durchdacht, gewitzt oder sonst wie zu finden, höchstens als ein Buch der Achtziger- und frühen Neunzigerjahre und der reinen Eitelkeit. Ein Debütant wäre wohlwollend weggeschwiegen worden, aber Enzensberger?

Auch Martin Walsers nächste Woche erscheinender neuer Roman „Angstblüte“ befeuert die Schweißdrüsen, nämlich zur Produktion von Angstschweiß, so zäh lässt der sich an, so ausufernd wird der erzählt, so irrlichternd soll der von Täuschung und Geld handeln, von Freundschaft und von Scheinheiligkeit und vor allem von dem über 70-jährigen Anlageberater Karl von Kahn. In einer Walser-Unseld-Berkéwicz-Konstellation, so beginnt der Roman, wird von Kahn an das Krankenbett seines von einem Schlaganfall heimgesuchten Freundes und Geschäftspartners Diego gerufen, und kurz darauf setzt er auf Drängen von dessen Frau Gundi seine Unterschrift unter einen Vertrag, mit dem seine und Diegos gemeinsame Firma verkauft wird. Im Klappentext heißt es, „Angstblüte“ sei ein Buch über ein Leben, „das sich von keiner Moral hemmen lassen will, nur von sich selbst“, und nach der Hälfte der Lektüre möchte man sagen: So viel Weiterlesehemmung war selten. Der Nächste im Bunde der Nachkriegsliteraturgroßen ist Günter Grass, dessen neues Buch der Verlag, klar, als „großes Werk“ ankündigt. Bei Kritikern und Buchhandel werde es als Vorabexemplar schon „reizpartienweise“ bestellt, was immer das heißen mag. „Das Häuten einer Zwiebel“ ist ein Erinnerungsbuch, ein erstes autobiografisches Grass-Buch, was interessant zu werden verspricht, aber gleichfalls Leseangst auslöst. Der Titel lässt ungute Literatur-Nahrungsmittel-Kochkunst-Metaphernverquirlung ahnen, was die beigelegte Leseprobe bestätigt: „Die Voraussetzungen für meine bis heutzutage anhaltende Lust, dieses mit jenem in einem Topf zu garen, das eine mit anderem zu füllen, mit Zutaten den besonderen Geschmack zu fördern und mir beim Kochen lebende und tote Gäste zu imaginieren, kündigte sich schon in der Frühzeit des nagenden Hungers an …“ Trotz allem: Erst mal abwarten und Tee trinken.

Um diese drei Großen kreisen andere Große, Walter Kempowski etwa, der mit „Alles umsonst“ einen Roman vorlegt über Flucht und Vertreibung. Oder Christoph Ransmayr, der in „Der fliegende Berg“ die Geschichte zweier irischer Brüder erzählt, die in die Gebirge Osttibets aufbrechen, um hier nach einem namenlosen, noch unbestiegenen Berg zu suchen (denke hier ja keiner an die Geschichte der Messner-Brüder!, warnt der Verlag). Auch von Peter Handke gibt es mit „Spuren der Verirrten“ Neues: ein Theaterstück, das im Februar 2007 unter der Regie von Claus Peymann uraufgeführt wird. Wer sich, gerade nach dem Heine-Preis-Skandal, in die Gedankenwelt Handkes weiter einarbeiten möchte, kann das zusätzlich tun mit den Gesprächen, die der Kritiker, Lyriker und Handke-Freund Peter Hamm mit Handke geführt hat, „Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und Visegrád“.

Gut nur, dass Walser-Grass-Handke schon länger nicht mehr den obersten Maßstab darstellen (nur allerhöchste Aufmerksamkeitswerte haben) und sich zwei, drei Generationen hinter ihnen viel mehr tut. Thomas Hettche wäre da zu nennen. Hettche hat mit „Woraus wir gemacht sind“ einen deutschen Entwicklungsroman mit Schauplatz USA geschrieben. Er will, so erste Eindrücke, etwas zu viel – vielleicht gar den ultimativen Relevanten Realismus? –, weiß aber in vielen Einzelszenen zu glänzen; dann Anette Pehnt, die das „Haus der Schildkröten“ aufsucht und einen Roman über das Vergehen der Zeit in einem Altersheim geschrieben hat; oder Felicitas Hoppe mit ihrer Johanna-von-Orléans-Variation; Jakob Arjouni, der mit „Chez Max“ in die Zukunft blickt. Oder Dietmar Dath, der vorgeblich über den Physiker Paul Dirac (1902–1984) schreibt, aber erklärt, „daß das Thema des Buches nicht Diracs Entdeckungen, nicht Diracs Lebenslauf, nicht einmal Diracs Haltung zur Welt ist, sondern das, was da mit mir und meinen Lieben passiert ist“. Weitere Nennungen: Gregor Hens, Ernst-Wilhelm Händler, André Kubiczek oder Bruno Preisendörfer, der mit seinem Liebesroman „Die letzte Zigarette“ vielleicht seinen tollen Erzählband „Die Beleidigungen des Glücks“ bestätigt.

Die kreative Bewegung findet hier statt, in der jüngeren Gegenwartsliteratur, und dazu passt, dass es dieses Jahr ein verstärktes Verlagswechselspiel gegeben hat: Hettche ist jetzt bei KiWi (vorher Dumont), Felicitas Hoppe bei Fischer (vorher Rowohlt), Helmut Krausser mit seinem Roman „Eros“ erstmals bei Dumont (vorher Rowohlt) und Peter Stamm mit seinem dritten Roman „An einem Tag wie diesem“ ebenfalls bei Fischer (vorher Arche). Die Zeiten der lebenslangen Autor-Verlag-Partnerschaften sind endgültig vorbei. Höchstens Suhrkamp hält an diesem Prinzip noch fest, dürfte aber bei seiner momentanen Entwicklung zu einem ganz normalen Verlag bald davon abkommen.

Wie jeden Herbst lassen sich die Verlage auch im Bereich der internationalen Literatur nicht lumpen, insbesondere der aus dem angloamerikanischen Raum. So haben Philip Roth und John Updike zur Abwechslung mal die Rollen getauscht. Roth erzählt in „Jedermann“ die Geschichte eines stinknormalen, durchschnittlichen Lebens in Amerika, ganz Godfathers-mäßig à la „Birth School Work Death“ (kleiner Popscherz); und John Updike – ja, schon wieder, was für eine unverwüstliche Schreibmaschine! – verhebt sich hoffentlich nicht mit seinem Roman „Terrorist“, in dem er sich in das Leben eines jungen islamischen Fundamentalisten einfühlt. Darüber hinaus gibt es John Banvilles Booker-Preis-gekrönten Erinnerungsroman „Die See“ erstmals auf Deutsch, versucht Zadie Smith nach einem zwischenzeitlichen Reinfall („Der Autogrammhändler“) mit ihrem Ostküsten-England-College- und Familienroman „Von der Schönheit“ an ihren umjubelten Erstling „Zähne zeigen“ anzuknüpfen“, setzt Neal Stephenson seinen Barockzyklus fort, ist Chuck Palaniuk wieder dabei und Nicole Krauss und auch Douglas Coupland, der in „Eleanor Rigby“ eine typische Douglas-Coupland-Geschichte erzählt: „Liz Dunn ist 36, dick und einsam und erholt sich gerade von einer Zahnoperation. Da ruft das Krankenhaus an: Ein junger Mann ist eingeliefert worden und behauptet, er sei ihr Sohn …“, so der Verlagsprospekt.

Zum diesjährigen Buchmesseschwerpunkt Indien wird selbstredend viel indische Literatur veröffentlicht, da hoffen die Verlage auf zweite und dritte „Mitternachtskinder“ und vielleicht einen Nachhall über die Messe hinaus. Ein richtiger Feger ist möglicherweise Suketu Mehtas Roman über die „Maximum City“ Bombay, nicht nur weil er von beklemmender Aktualiät ist. Und auch ein paar andere hochkarätige Nichtangloamerikaner haben neue Stoffe. Etwa Mario Vargas Llosa, dessen „Das böse Mädchen“ mindestens an Vargas Llosas Premiumromane wie „Tante Julia und der Kunstschreiber“ anknüpfen soll, oder Juri Andruchowytsch, dessen angeblich erfolgreichster Roman „Moscoviada“ jetzt auf Deutsch vorliegt und von den skurrilen und horriblen Abenteuern eines ukrainischen Literaturstudenten in Moskau handelt. Eines der Bücher der Saison könnte aber auch die „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ werden. Sie wurde von der ukrainischstämmigen, in England lebenden Professorin Marina Lewycka geschrieben und schon von unserem very own Helmut Höge gelesen. Höge, eher zurückhaltend bezüglich der Belletristik und nicht zu Superlativen neigend, hat Lewyckas Roman in einer Nacht am Stück gelesen und war begeistert: „Ganz zauberhaft!“