Das Idyll bröselt

VON MANFRED KRIENER

Die in den Berg gerissene Wunde ist gewaltig. Ein zackiger Riss durchzieht die Felswand, als habe der liebe Gott den Vorschlaghammer ausgepackt. Als habe er auf jenen Berg eingedroschen, der bei Alpinisten als ebenso gefährliches wie reizvolles Ziel gilt: den Eiger. Der berühmte Alpengipfel, dessen Nordwand nach tödlichen Unfällen wagemutiger Kletterer immer wieder für Schlagzeilen sorgt, wird derzeit nicht nur von den Schweizern mit einer Mischung aus Sensationslust und Angst beobachtet. Täglich kreisen Hubschrauber, Geologen huschen mit dem Meterstab zu markierten Stellen in der Wand, um noch einmal nachzumessen, was offensichtlich ist. Der Berg bewegt sich, der Felssturz hat begonnen. Am späten Donnerstagabend stürzten geschätzte 500.000 Kubikmeter Fels in die Tiefe. Und weiterhin droht der Berg, einen noch gewaltigeren Teil seiner Felswand abzusprengen. Dann könnten bei Grindelwald, an der Ostflanke des Eigers, insgesamt zwei Millionen Kubikmeter Gestein mit einem Gewicht von fünf Millionen Tonnen ins Tal krachen. Das Volumen entspricht ungefähr 2.000 Einfamilienhäusern.

Schon seit Mitte Juni steht der Eiger unter genauer Beobachtung. Seitdem ist dokumentiert, dass sich in dem Bergmassiv in der Ostflanke auf einer Länge von 250 Metern ein Spalt geöffnet hat, der anfangs um täglich drei bis fünf Zentimeter wuchs. Jetzt ist er bereits mehrere Meter breit. Doch inzwischen bewegt sich der Berg vor allem „streng nach unten“, wie der Schweizer Geologe Hans Rudolf Keusen der taz sagte. Mitte der Woche wurde wieder gemessen: Der Fels war erneut um 80 Zentimeter abgesackt, seine Bewegung „beschleunigt sich deutlich“, so Keusen. Rutscht er weiter ab, rechnen Experten mit dem Schlimmsten: einem der größten Felsstürze der vergangenen hundert Jahre. Als Vorboten des Big Bang poltern schon jetzt immer wieder kleine und große Gesteinsbrocken zu Tal, hinterlassen Staubwolken und eine leise Ahnung vom kommenden gewaltigen Absturz der Wand.

Geologe Keusen wertet die täglichen Messungen aus und ist über das „rasante Tempo“ erstaunt, mit dem sich der Berg verschiebt. „Noch in diesem Jahr“, davon ist Keusen überzeugt, wird die betroffene Felsnase des Eiger abstürzen. Wann genau dies der Fall sein wird, vermag er nicht zu sagen. Im günstigsten Fall kommt der instabil gewordene Berg wieder zur Ruhe. Doch die Messergebnisse lassen eher den großen Felssturz vermuten, der dem Vorspiel von Donnerstagabend folgen wird.

Sicherer sind sich Keusen und andere Experten, was die Ursache angeht. Rutschende Berghänge, Felsstürze und Steinschläge in den Alpen sind neben Unwettern vor allem eine Folge der abschmelzenden Gletscher. Mit ihrem Rückzug gerät die sensible Stabilität der Berge aus dem Gleichgewicht, die gesamte Architektur der Alpen verändert sich. Gigantische Eismassen, die bisher auf die Hänge drückten, verschwinden. Stark unterschnittene Hänge werden plötzlich nicht mehr vom Gletschereis gestützt. Geröll und Gestein, das bisher von den Eismassen festgehalten war, wird frei und beweglich. Wie Beton hält das Gletschereis die Berge zusammen. Sein Verschwinden sorgt für eine gefährliche „Entspannung“ der Berge.

Zum Glück wird der Felssturz am Eiger kein bewohntes Gebiet treffen. Die nächsten Häuser sind etwa zwei Kilometer entfernt, und ein Teil der Wanderwege im Tal wurde vorsorglich gesperrt. Katastrophentouristen reisen inzwischen aber zu Hunderten ins Berner Oberland, um den wackelnden Fels aus sicherer Entfernung zu bestaunen und um vielleicht dabei zu sein, wenn er herunterkommt. Ziel der Touristen ist das Bergrestaurant Bäregg, wo sich der Wirt Hansruedi Burgener eine neue Existenz aufgebaut hat. Sein alter Berggasthof war nur wenige hundert Meter entfernt bei einem Moränenabbruch zerstört worden. Das Gebiet am Grindelwaldgletscher ist nicht erst seit diesem Juni in Bewegung.

Wenn die Felsnase des Eiger abstürzt, werden die Gesteinsmassen auf den Grindelwaldgletscher herunterkrachen. Über dessen Stabilität lässt sich nur spekulieren. Die Eismassen sind etwa 200 Meter dick, darunter sitzt Fels. Der Gletscher besitzt aber auch Hohlräume mit Gletscherseen. Unter dem gewaltigen Druck könnten die Hohlräume zusammenfallen und das Wasser herausdrücken. Aber auch dann bestünde wohl keine akute Gefahr für Menschen oder Gebäude. So wird der Felssturz am Eiger keine Katastrophe heraufbeschwören, sondern nur ein gewaltiges Naturschauspiel: eine fünf Millionen Tonnen schwere Erinnerung an die globale Klimaveränderung und ihre heftigen Folgen.

Die rasant abschmelzenden Alpengletscher sind das sichtbarste Zeichen dieser Klimaveränderung. Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Alpengletscher ihren letzten Hochstand erreicht. Seitdem schwinden sie, unterbrochen von kurzen Phasen leichter Erholung. In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Schwund dramatisch beschleunigt. Allein im glühend heißen Hitzesommer 2003 verlor das Eis der Alpen fünf bis zehn Prozent seines Volumens. Im Jahr 1850 betrug die Gletscherfläche der Alpen 1.800 Quadratkilometer, im Jahr 2000 wurden nur noch 1.050 Quadratkilometer ermittelt. Heute, sechs Jahre später, dürfte rund die Hälfte der Gletschermasse von 1850 abgeschmolzen sein.

Dabei gehen nicht nur einzigartige Landschaften verloren. Die Gletscher bilden auch die wichtigste Süßwasserreserve Europas, sie sind für die Wasserversorgung, aber auch für die Stabilität der Gebirge enorm wichtig. Viele Alpenregionen sind auf das Gletscherwasser angewiesen, das Seen speist und Täler ergrünen lässt. Die Gletscher wirken zudem wie ein Schwamm, der starke Regengüsse aufsaugen kann, die sonst ungebremst ins Tal rauschten.

Inzwischen wird in der Schweiz auf dem Gurschengletscher bei Andermatt versucht, das Abschmelzen der Gletscher durch Kunststoff-Folien zu verhindern. Auf 3.000 Quadratmetern sind im vergangenen Jahr als Experiment Folien ausgelegt worden, die den Gletscher vor dem Sonnenlicht schützen sollen. Vor allem nach der Schneeschmelze im Sommer, wenn die schützende „Wolldecke“ der weißen Pracht weggetaut ist und die Gletscher der Sonne ausgesetzt sind, schmelzen sie im Rekordtempo dahin. Der blütenweiße Schnee reflektiert das Sonnenlicht sehr viel besser als die darunter liegenden Eismassen, deren Oberfläche häufig durch die Luftverschmutzung eingeschwärzt ist.

Die Schweizer Greenpeace-Sektion hat die versuchsweise ausgelegten Gletscherfolien indes als „absurde Form der Symptombekämpfung“ heftig kritisiert. Mit solchen „Pflästerli“ werde man nichts gegen den bedrohlichen Gletscherrückzug ausrichten können, zumal die abgedeckte Fläche gerade mal 0,0003 Prozent der Gesamtfläche der Schweizer Gletscher schütze.