schaut sich in den Galerien von Berlin um

MARCUS WOELLER

In Albrecht Dürers berühmtem Meisterstich „Melencolia I“ sitzt eine geflügelte Figur vor einem kleinen Häuschen. Nachdenklich schaut sie auf das ganze Gerümpel, das sie umgibt. Unter den als Werkzeugen und Gebrauchsutensilien klar identifizierbaren Objekten fällt ein merkwürdig geformter Stein auf, der neben der Engelsgestalt monolithisch aufragt. Dieser Rhomboederstumpf bleibt in der Deutung des Werks rätselhaft, in der Gestalt aber so signifikant, dass er schon als Dürer-Polyeder bezeichnet wurde.

Auch die kanadische Künstlerin Angela Bulloch operiert mit solchen geometrischen Irritationskörpern. Sie geht aber weiter und verzerrt die Polyeder noch zusätzlich. Sie lässt ihre Form von Computerprogrammen errechnen und stellt sie aus marmorähnlichen Kunststoffen oder polierten Faserplatten her. In ihrer inzwischen elften Soloshow in der Galerie Esther Schipper hat sie Stelen aus solchen Rhomboiden errichtet. Wenngleich es sich um haptische Objekte handelt, verschließen sie sich einer eindeutigen Wahrnehmbarkeit. Je nachdem wie man sie betrachtet, kippen sie in die zweite Dimension zurück. Farbig gefasste Flächen führen in die Irre. Man sieht Schatten, wo keine sind, Krümmungen, wo sich nichts krümmt. Mit der Faszination an der dreidimensionalen Illusion in der Fläche spielt Bulloch auch in Siebdrucken eines Würfelmusters, wie man es von Renaissancefußböden kennt. Doch dann wölbt sich dieses Muster plötzlich in der Manier der Op-Art. Gleichzeitig wellt sich das Papier, weil es nicht gerahmt, sondern nur auf einer Filzmatte befestigt ist. Rahmen selbst führt Bulloch sowieso ad absurdum, weil sie in ihren Arbeiten nicht das Werk selbst umschließen, sondern nur die Aussparung, mit der es über dem Nagel an der Wand hängt. Der Ausstellungsbesuch „In Virtual Vitro“ wird zur Seh- und Wahrnehmungserfahrung, die auf mehreren Ebenen genossen werden kann. Entweder auf Entschlüsselungstour durch die Welt der Formen und Materialien. Oder auf der Suche nach ästhetischen Zitaten. Die Kunst lädt aber auch zur Interaktion ein. Zwei Sitzsäcke sind als „soziale Plastiken“ ausgewiesen. Einmal in ihnen versunken, erklärt ein animierter 3-D-Avatar die Exponate auf einem Tablet. In einer „Hörstation“ kann man Schallplatten auflegen und den Tracks lauschen, die Bulloch für ihr eigenes Plattenlabel komponiert.

Bei aller konzeptuellen Strenge stimmt die Ausstellung aber nicht melancholisch angesichts einer rätselhaften Welt, sondern macht neugierig auf jene Dinge, die weitgehend unabhängig von unseren Interpretationsanstrengungen bleiben. (Bis 1. März, Di.–Sa., 11–18 Uhr, Schöneberger Ufer 65)