Keine Anbiederung an den Konsumenten

DESIGN Er gehörte zu den Klassikern der jungen Bundesrepublik: Der Gestalter Herbert Hirche. Das Museum der Dinge auch bekannt als Werkbundarchiv nimmt seinen 100sten Geburtstag zum Anlass einer Retrospektive

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Diese Renaissance geht auf eine Kuhhaut. Wie das eben so ist, wenn die klassische Produktmoderne der jungen Bundesrepublik unter den Bedingungen einer spätmodernen Zitatkultur wiederbelebt wird. Und so steht ganz vorne im Museum der Dinge einer dieser niedrigen Herbert-Hirche-Sessel, die damals in den Fünfzigerjahren die Sitzkultur von all ihren steifen Konventionen befreien sollten. Er steht dort im hippen Kuhfell-Bezug; ein distinguiertes Loftmöbel, neu aufgelegt rechtzeitig zum hundertsten Geburtstag des Gestalters und Architekten.

Ebenfalls ein Geburtstagsgeschenk und zudem das historisch genauere: die Retrospektive „strahlend grau“ im Werkbundarchiv/Museum der Dinge in der Kreuzberger Oranienstraße. Wobei bereits dieser Titel – „strahlend grau“ – so schön und gleichzeitig präzise formuliert ist, wie es die Arbeiten von Herbert Hirche auch immer waren. „Lasst uns maßhalten!“ lautete das Apriori seines Designs, eine Erkenntnis, die den Traditionen des Bauhauses und der Erfahrung des Faschismus gleichermaßen geschuldet war.

Herbert Hirche (1910–2002) war, wie es die Amerikaner so schön sagen, „the man who was there“. Erst Werksstudent am Dessauer Bauhaus, Klasse Wassily Kandinsky. Danach Mitarbeiter im Architekturbüro von Mies van der Rohe im Berlin der dunkelbraunen Dreißigerjahre, als die Aufträge knapp und das Geld noch knapper war und man sich die viele Zeit mit visionären Detaillösungen in Holz und Stahlrohr vertrieb. Und mitten im Zweiten Weltkrieg im Atelier von Egon Eiermann, Bugholzmöbel, innere Migration.

Nach 1945 gehört Herbert Hirche zur Mannschaft um Hans Scharoun. Kühne städteplanerische Aufbauhilfe für das zerstörte Berlin wollte man leisten – und geriet doch schnell zwischen die ästhetischen und politischen Fronten einer bald geteilten Stadt. Hirche verlässt Berlin und seinen Lehrstuhl an der Hochschule Weißensee. Weiter nach Westdeutschland, Entwürfe für die neuen modernen Möbelhersteller (Wilde + Spieth, Walter Knoll, Christian Holzäpfel) und, man möchte natürlich sagen, immer wieder für den Elektrogerätehersteller Braun.

Weißer rechteckiger Knopf

Der legendäre Braun HF1 von 1958 beispielsweise, der weltweit erste Fernsehempfänger ohne ornamentales Holzfurnierdekor, wurde von Herbert Hirche entworfen. Rechteckig, zurückhaltend, in seinem Gestus wie in seiner Funktionalität radikal reduziert. Komponiert aus zwei Farben Grau, vier dünnen, schwarzen Beinen und einem weißen rechteckigen Knopf. Mehr braucht es nicht für einen Klassiker.

Dieser Braun-Fernseher ist denn auch einer der Hirche-Entwürfe, mit denen dieser kongeniale Ausstellungstitel „strahlend grau“ spielt. Genauso wie ein Exponat, das es sogar auf 45 Grautöne bringt – mit so feinen Namen wie „Vorahnung“, „Verzicht“, „morbide“ oder „monoton“. Herbert Hirches „Graukoffer“, tatsächlich ein kleiner Pappkoffer, vollgesteckt mit 45 etwa DIN A5 großen Farbkarten, war ein Geschenk seiner Studenten zum 52. Geburtstag des Gestalters.

Und es ist genauso ein Geschenk für diese Ausstellung, finden sich doch in diesem einen Ding all die Aspekte des „strahlend grauen“ Dinggestalters: Das Lob des Verzichts, die Liebe zu allem Systematischen, die Ethik der Form. Aber genauso eben die Furcht, es sich und erst recht den Konsumenten ja nicht zu einfach zu machen. Keine Anbiederung, nichts Ornamentales.

Herbert Hirche wird über die listige, lustige Ironie seiner Schüler geschmunzelt haben. Abends beim Rotwein bei seinem Stuttgarter Lieblingsitaliener, den er gleich zweimal – in den Fünfzigerjahren und dann noch einmal 1969 – mit eigenen Entwürfen komplett eingerichtet hat.

Und am Ende taugt vielleicht just dieses Ristorante Santa Lucia zum Brennglas der prosperierenden Bundesrepublik und ihrer ja tatsächlich einmal fast staatstragenden, streng funktionalistischen Designkultur. Von der Migrantenkneipe zum Szeneitaliener – und mittendrin die unschuldig schönen Korbstühle Herbert Hirches mit den verschwindend dünnen Stahlrohrbeinen. Oben (das Korbgeflecht) die bäuerlichen und handwerklichen Traditionen Italiens, unten die Beine der Industriesachlichkeit.

Auch diesen Santa-Lucia-Stuhl gibt es nun wieder als Neuauflage. Doch die Ausstellung – kuratiert von Nicola von Albrecht, die auch den im Werkbundarchiv liegenden Nachlass Herbert Hirches wissenschaftlich betreut – ist klug genug, diese auferstandenen Klassiker als das zu nehmen, was sie sind: gegenwärtige Möbel, in denen nur mehr eine Ahnung ihrer ursprünglichen Intention und Attitüde eingeschrieben ist. Design, das hat uns die Postmoderne und erst recht die anschließende Retro-Moderne gelehrt, liegt längst und vor allem im Auge des Betrachters. Dessen Blick aber zu schulen und zu fokussieren, da leistet diese Ausstellung geradezu didaktisches.

■ Die Ausstellung „strahlend grau“ läuft noch bis zum 25. Oktober im Werkbundarchiv/Museum der Dinge, Oranienstraße 25, geöffnet freitags bis montags 12–19 Uhr.