Das Recht der ersten Nacht

SALZBURG Konzentrierte Kunstanstrengung: Die Salzburger Festspiele begannen mit Peter Stein, Wolfgang Rihm und Jonathan Meese

Erstaunlich ist, wie kompatibel zur Musik von Rihm sich der Beitrag des bildenden Künstlers Jonathan Meese verhält

VON JOACHIM LANGE

Ihre Gründung war 1920 eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg, eine Flucht aus der desolaten Wirklichkeit in die Kunst. Max Reinhardt, Hugo von Hofmannsthal und dann auch Richard Strauss haben dem von der europäischen k. u. k. Großmacht auf eine kleine Restrepublik geschrumpften Österreich mit den Salzburger Festspielen eine Art Gründungsmythos als Kulturnation beschert. Seit ihrer Erneuerung unter Gerard Mortier (Intendant von 1991 bis 2001) ist es heute immerhin eine Selbstverständlichkeit, dass ein Künstler wie Daniel Barenboim die Eröffnungsrede zu einem eindringlichen, nahostpolitischen Friedensappell nutzten kann.

Natürlich sind diese Festspiele immer noch auch elitär, die Kartenpreise deutlich höher als anderswo (seit Jahren aber auch mit ermäßigten Kontingenten für Jugendliche). Die Hofstallgasse, von der aus es in die Felsenreitschule, das neue Haus für Mozart und das Große Festspielhaus geht, bleibt ein Laufsteg der Eitelkeiten. Seit kurzem haben die rein ökonomisch – via diverse Umwegrentabilitäten – höchst erfolgreichen Festspiele sogar mit den Folgen eines Veruntreuungsskandals bei den Osterfestspielen zu kämpfen. Und doch sind die Salzburger Festspiele vor allem ein Ort konzentrierter Kunstanstrengung. Hier gibt es in einem Monat so viele Premieren wie an großen Mehrspartenhäusern in einem ganzen Jahr. Zumindest kann man alles, was hier gemacht wird, im großen Diskurs über das, was Kunst soll und kann, nicht ignorieren.

Im letzten Jahr nutzte Daniel Kehlmann seine Eröffnungsrede für eine Attacke auf die vermeintlichen Irrwege des sogenannten Regietheaters. Ein künstlerisches Statement in die gleiche Richtung ist die „Ödipus auf Kolonos“-Inszenierung von Peter Stein. Zum aktuellen Festspielmotto „Wo Gott und Mensch zusammenstoßen, entsteht Tragödie“ passte sie auf jeden Fall. Stein, der sich vom einstigen Schaubühnen-Erneuerer zum selbsternannten Schutzheiligen der Autoren gegen die Willkür der Regisseure entwickelte, verpasst seinem Ödipus die große altmeisterliche Attitüde. Es ist die Lebensrechtfertigung des Vatermörders und Mutter-Gatten Ödipus, der zwar blind umherirrt, aber doch sehend geworden ist. Seine monologisierende Lebensweisheit bürdet Stein seinem Favoriten für die großen Rollen, Klaus Maria Brandauer, auf. Doch der ist, wider Erwarten, diesmal nicht das Problem, sondern tatsächlich die Rechtfertigung des pausenlosen Dreistunden-Abends. Ohne Selbstdarstellereitelkeiten liefert er eine Glanzleistung, macht aus dem Stuhl, auf den ihn Peter Stein gebannt hat, einen Mimen-Thron, vor dem jeder Vorbehalt verblasst!

Auch in der Oper gab es tags drauf eher Lukullisches. Und das bei einer Uraufführung! Der Komponist Wolfgang Rihm nutzt für seinen „Dionysos“ die philosophische Höhenluftpoesie von Nietzsches Dionysos-Dithyramben als Material, rückt sie in seine Klangwelt, stellt sie aber nicht in Frage. Erstaunlich ist in der Inszenierung der opernkompatible Beitrag des bildenden Künstlers Jonathan Meese. Der beeindruckt mit seiner Bühne stärker als Regisseur Pierre Audi, der mehr arrangiert als interpretiert. Rihms Musik ist so theaterwirksam wie sinnlich und öffnet mitunter alle Schleusen für einen Nachhall spätromantischer Klangsinnlichkeit. Die ist bei Ingo Metzmacher und dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, der imponierenden Mojca Erdmann als Adiadne und dem vitalen Johannes Martin Kränzle als Zentralfigur N bestens aufgehoben.

Die zweite Schauspielpremiere galt Stefan Zweigs „Angst“. Schon die Novelle aus dem Jahre 1920 hat ihre Kammerspielqualitäten. Und Regisseur Jossi Wieler die Fähigkeit, daraus tatsächlich ein packendes Psychodrama zu machen, das ziemlich modern daherkommt. Anwaltsgattin Irene hat ein Verhältnis und ein schlechtes Gewissen. Das schlägt in eine zunehmende Angst vor Entdeckung um, als sie von einer Frau erpresst wird. Die freilich ist eine Schauspielerin, die ihr Ehemann (Andre Jung) engagierte , um seine Frau in die Enge zu treiben. Sein Machtspiel geht zu weit, weil er Irene damit fast in den Selbstmord treibt. Elsie de Brauw ist dabei als Irene jenseits jeder Tragödinnen-Attitüde gegenwärtig: sowohl in der leichtsinnigen Selbstverständlichkeit, mit der sie das Verhältnis mit Eduard (Stefan Hunstein) schweben lässt, als auch in der wachsenden Verunsicherung, als sie sich entdeckt glaubt. Als ihre Kinder am Ende mit einer Mama-Puppe spielen, die sie schubsen und treten, ahnt man, welche Zukunft dieser scheinbar geretteten Familie bevorsteht.

Alle bisherigen Premieren sind Koproduktionen. Die lange vor allem auf ihre Exklusivität stolzen Festspiele haben sich immerhin noch das Recht der ersten Nacht bewahrt.