Die Wiedergeburt des Baroudeurs

Mit einem unglaublichen Comeback auf der letzten schweren Alpenetappe schreibt sich Floyd Landis ein in die Geschichtsbücher des Radrennsports. Vor dem heutigen entscheidenden Zeitfahren ist der neue Liebling der Franzosen nun plötzlich wieder Favorit auf den Sieg bei der Tour de France

AUS MORZINE SEBASTIAN MOLL

Andreas Klöden sieht noch schmaler aus als sonst. Das von mittlerweile 90 Stunden unter der französischen Sonne tiefbraune Gesicht klebt bedenklich eng an den Wangenknochen. Wie viel von seinen 62 Kilo Startgewicht nach drei Tour-Wochen noch übrig sind, will Klöden vermutlich im Moment lieber selbst nicht wissen.

Insofern kann man es ihm nicht verübeln, dass er sich zum Essen Zeit nimmt und erst auf die Wiese hinter dem Alpenhotel Beau-Regard in Morzine kommt, als die Sonne schon hinter der grandiosen savoyischen Bergkulisse verschwunden ist. „Ich bin so ziemlich an meiner Grenze“, ist dann auch das Erste, was er sagt, während er sich in einen Gartenstuhl sinken lässt. Der Dienstag in L’Alpe d’Huez, als Klöden mit Floyd Landis mitfuhr und ihn sogar noch angreifen konnte, erzählt Klöden, das sei sein bester Tag bei dieser Tour gewesen. Seitdem werde es jeden Tag schwerer für ihn. Auf der letzten Alpenetappe nach Morzine habe er nur noch um das Überleben gekämpft.

Das merkte man. Als am letzten Anstieg zum Col de Joux-Plane Carlos Sastre angriff und dem schon lange enteilten Floyd Landis hinterhersetzte, konnte Klöden nicht reagieren. Die Beine wollten sich nicht mehr schneller bewegen, die Muskeln weigerten sich, den Zug auf die Fahrradkette noch einmal zu erhöhen. Klöden verlor zwar auf Oscar Pereiro, den Träger des Gelben Trikots, keine zusätzliche Zeit. Zwischen dem Spitzentrio Pereiro, Sastre, Landis und dem Deutschen klafft jedoch zwei Tage vor Paris eine Lücke von 2 Minuten. Die Zeit wird knapp.

Deshalb hat Klöden sich auch schon damit abgefunden, dass das mit dem Tour-Sieg in diesem Jahr wohl nichts mehr wird. „Wenn Oscar Pereiro am Samstag einen ganz schlechten Tag hat und ich einen hervorragenden, dann kann ich noch unter die ersten drei kommen“, schätzt er realistisch seine Perspektive ein. Sastre und Landis beim abschließenden Zeitfahren heute noch einzuholen, das erscheint dem Cottbusser jetzt vermessen. Für den großen Favoriten auf den Tour-Sieg hält Klöden Floyd Landis, der sich auf der letzten Alpenetappe nach seinem Einbruch am Tag zuvor mit einem unglaublichen Comeback wieder bis auf 30 Sekunden an die Spitze herangekämpft hatte. „Mit diesem Sieg und mit der Motivation, die er daraus zieht, weiß ich nicht, wer Floyd noch schlagen soll“, so Klöden.

Landis’ Soloritt löste bei der Tour de France einen Sturm der Euphorie aus. Die Kommentatoren mussten schon tief in die Historienkiste greifen, um Parallelen zu einer solch spektakulären Wiederauferstehung zu finden. Nur Eddy Merckx 1971 und Charly Gaul 1958 fiel etwa der Radsport-Bibel L’Équipe in der Nachkriegszeit ein und selbst diese beiden Männer hätten nicht mit einer einzigen beherzten Attacke derart das Gesamtklassement der Tour umgekrempelt wie Landis.

Ohnehin hat man Landis in Frankreich ins Herz geschlossen. Der scheidende Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc bezeichnete ihn schon in der vergangenen Woche als eine Art Anti-Armstrong. Landis ist ein Amerikaner, den die Franzosen lieben können. Er ist kein Großsprecher, er ist nicht arrogant, er hat keine Starallüren und er braucht es nicht, irgendjemanden zu provozieren, um sich zu motivieren. Und jetzt ist er auch noch ein großer „Baroudeur“ – ein Radfahrer mit Herz und Mut, so wie die Franzosen das lieben, und kein kühler Rechner wie Armstrong.

Landis selbst sagt jedoch, dass er eigentlich lieber gerechnet und kalkuliert hätte. Aber sein Einbruch habe ihn dazu gezwungen, zu attackieren. Am Abend nach seinem schlechten Tag in La Toussuire habe er ein Bier getrunken und dabei mit sich verhandelt, ob er resignieren soll oder nicht. Das Ergebnis: „Ich wollte kämpfen, ich wollte zumindest meiner Mannschaft zeigen, dass ich es verdiene, ihr Anführer zu sein.“

Von seinem ehemaligen Chef Armstrong unterscheidet Landis also vor allem das Tief – ohne die Schwäche wäre es nicht zum Heldentum gekommen. Und das scheint überhaupt der große Unterschied dieser Tour zu den Jahren zu sein, in denen Armstrong dominierte. Der erlitt sieben Jahre lang keinen echten Einbruch. In diesem Jahr hatte jedoch schon jeder der Favoriten mindestens einen schlechten Tag. Das Rennen wurde dadurch das spannendste seit langer Zeit – es gab immer Scharten auszuwetzen und jeden Tag griff jemand anderes an. Man wurde eindringlich daran erinnert, dass so ja eigentlich die Tour sein sollte, dass Höhen und Tiefen dazu gehören. Armstronghafte dreiwöchige Konstanz erscheint im Rückblick als anormal, Abstürze erscheinen hingegen als selbstverständlicher Bestandteil eines derart brutalen Wettkampfes.

Bei Klöden war es kein dramatischer Einbruch, wie bei Landis, eher ein langsames Nachlassen der Kräfte. Angesichts der Tatsache, dass Klöden noch im April mit einer gebrochenen Schulter im Bett lag, war dieses jedoch kaum verwunderlich. Deshalb ist Klöden mit seiner Tour, egal ob er nun Dritter oder Vierter wird, auch nicht unglücklich. „Vor drei Wochen noch hätte ich an einen vierten Platz nicht geglaubt.“ Ein wenig enttäuscht, so Klöden, sei er nur, weil er zwischenzeitlich so nahe am Sieg war, dass er ihn schon habe schmecken können. Und dieser Geschmack habe ihm Appetit gemacht.