Verkehrsunfälle und Abgase sind schlimmer

Ungefährlich war die Passage der Alpen noch nie. Seit dem Gotthard-Unglück ist eine neue Debatte entbrannt über das Verkehrsrisiko in den Bergen

Als Ende Mai unweit von Göschenen einige zimmergroße Felsen auf die Autobahn fielen und einen VW-Käfer Cabrio aus Deutschland trafen, gingen gruselige Bilder um die Welt und die wichtigste Schweizer Transitachse wurde erst einmal vier Wochen gesperrt. Für die Urner und Tessiner Anwohner eine Katastrophe. Trotz beginnender Saison und bestem Wetter blieben die Gästebetten leer. Wirte und Hoteliers waren stinksauer über die wochenlange Isolation. In der Presse sei „viel zu viel Theater“ gemacht worden, finden sie.

Die Einschätzung deckt sich mit der des Walliser Geologen Charles-Louis Joris, der die Totalsperrung als „völlig übertrieben“ kritisierte und in der Alpennation damit eine neue Sicherheitsdiskussion auslöste. Mit Hilfe eines modernen Warnsystems hätte man seiner Meinung nach zwei der vier Fahrspuren offen halten – und den Volkswirtschaften der Region Einnahmeverluste in Millionenhöhe ersparen können. Wenn man die im Kanton Uri zum Zuge gekommene Sicherheitsphilosophie als Maßstab nähme, müssten viele andere Alpenstraßen sofort gesperrt werden. Eine hundertprozentige Sicherheit sei im Gebirge nunmal nicht zu erreichen, die Behörden dürften sich von der medialen Aufarbeitung eines spektakulären Unglücksfalls nicht unter Druck setzen lassen, „zumal durch die Verlagerung des Transitverkehrs auf ungeeignete Ausweichachsen wie der zweispurigen San-Bernardino-Route ungleich höhere Risikopotenziale geschaffen werden“.

Andere wiederum warfen den Behörden gerade umgekehrt mangelnde Vorsorge vor. Schließlich waren schon vor einem Jahr an der gleichen Stelle Felsbrocken auf die A 2 gestürzt. Tatsächlich gibt die Urner Baudirektion zu, dass sie die Felswand am Taghorn auch schon vor dem Unfall als neuralgischen Punkt eingestuft hatte. Nach den Steinschlägen im März 2005 habe man aber sofort die Gefahrenkarte angepasst und Schutzmaßnahmen ausgearbeitet. Doch selbst wenn der geplante Schutzwall samt Fangnetzen schon fertig gewesen wäre – aufhalten hätte man einen 125 Tonnen schweren Brocken damit nicht können.

Der Geologe Franz Keller, Mitautor der regionalen Gefahrenkarte, spricht folgerichtig von einem „Schutzdefizit zwischen Amsteg und Göschenen“, dem letzten Teilstück vor dem Gotthard-Nordportal. Allein auf dem heikelsten, drei Kilometer langen Abschnitt könnten an fünfzig Stellen jederzeit Felsbrocken auf die A 2 stürzen, die meisten ein bis zwei Kubikmeter groß, aber auch 15-Tonnen-Kolosse könnten nicht ausgeschlossen werden. Statistisch betrachtet müsse alle zehn bis hundert Jahre mit einem solchen Ereignis gerechnet werden. Weil Granit spontan abbreche, ließen sich niemals genaue Vorhersagen treffen. Deshalb habe auch die jüngste Sicherungssprengung nicht etwa auf einen Zustand absoluter Gefahrlosigkeit gezielt, sondern nur auf die Wiederherstellung jener moderaten Risikolage, die hier immer schon besteht. Alles andere sei weder technisch noch finanziell machbar.

Die Wahrscheinlichkeit, von einem herabstürzenden Felsen erschlagen zu werden, ist jedoch um einiges geringer als die, in einen jener ganz „normalen“ Verkehrsunfälle zu geraten, die den Medien kaum noch eine Notiz wert sind. „Am gefährdetsten sind ohnehin die, über die überhaupt nicht geredet wird“, sagt Alf Arnold. Der Geschäftsführer der Alpeninitiative meint die Anwohner der alpinen Transitschneisen. „Lärm und Abgase reduzieren nicht nur die Lebensqualität der Bergbevölkerung, sie stellen längst auch ein Gesundheitsrisiko dar.“ Das freilich bleibt dem schnellen Blick verborgen – im Unterschied zu Unfällen und Steinschlag.

GERHARD FITZTHUM