Mit großer Leuchtkraft leben

SPOKEN WORD Der Komposition der Sprache und ihrem Klang widmet sich der tapfere Schweizer Verlag Der gesunde Menschenversand aus Luzern

Es geht um das gesprochene Wort. Trotzdem muss dieser Text mit einer Fotografie beginnen: Ganz vorn im Bild stehen zwei Kerzen, dazwischen ein Glas mit etwas, das schwer nach Whisky aussieht. Auf einem Ledersofa sitzt der Schweizer Autor Michael Fehr und hält sich einen knallroten Schal vor den Mund. Links und rechts von ihm sitzt je eine ernste Frau mit knallrotem Lippenstift.

Die eine hält mit beiden Händen Fehrs freie Hand. Die andere zeigt eine Pappe mit den Worten: „Der Preis dafür, mit grosser Masse und grosser Leuchtkraft zu leben, ist letzten Endes die Explosion“. Im verschwommenen Raum dahinter sitzen leicht versetzt noch einmal drei Menschen. Drei Fenster mit Butzenscheiben bilden den endgültigen Hintergrund. Es ist ein Triptychon, ein Bild mit Kultpotenzial.

Ebenso durchkomponiert wie die Fotografie sind die Texte von Michael Fehr. Dabei schreibt der Autor streng genommen gar nicht. Fehr ist 1982 mit einer Sehbehinderung auf die Welt gekommen und kann deshalb nur Formen und Farben erkennen. Also komponiert er seine Texte. Er arbeitet mit der Intonation und dem Rhythmus der Sprache und diktiert seine Werke in ein eigens für ihn entwickeltes Computerprogramm.

Jetzt hat er einen Verlag gefunden und der Verlag hat ihn gefunden: Fehr und Der gesunde Menschenversand (ohne t!) passen perfekt zusammen. Denn das kleine Luzerner Haus – „wir bestehen aus anderthalb Leuten“, sagt Verleger Matthias Burki – ist so nah an der Mündlichkeit wie niemand sonst in der Schweiz.

Burki, der je nach Projekt mit unterschiedlichen Leuten zusammenarbeitet (deswegen anderthalb), erzählt im Gespräch, dass der Verlag eher aus Zufall entstanden ist. Ein paar Spoken-Word-Künstler wollten 1998 eine Anthologie publizieren, also gründeten sie spontan den Menschenversand. Erst veranstalteten sie vor allem Poetry-Slams, dann fingen sie an, Hörbücher zu machen. Inzwischen gibt es eine gute Homepage inklusive Hörbeispielen und Leseproben.

Und es gibt die Spoken Script Edition. Die zehnjährige Jubiläumsausgabe kam letztes Jahr mit „Kurz vor der Erlösung“ von Michael Fehr. Es ist eine Komposition in 17 Kapiteln aus je 17 Sätzen. Eine weitere Edition stammt von Franz Hohler, den die Schweizer aus dem Radio kennen. Band vier der Spoken Scripts, „Der Goalie bin ig“ von Pedro Lenz, wurde inzwischen verfilmt und läuft ab heute in den Deutschschweizer Kinos. Die meisten der Künstler kennen sich untereinander, sagt Burki. Aus 30 bis 40 Leuten besteht die Szene, man empfiehlt sich untereinander und gegenseitig.

Zum Beispiel Michael Stauffer. Stauffer und Burki arbeiten schon lange zusammen, der Autor hat ein „riesiges Arsenal“ an Bühnentexten. Im Spoken-Word-Radio kann man sich einen Eindruck verschaffen: „Redenredenreden. Kleine Menschen gehen sparsam mit Sprache um. Und wenn dann jemand immer weiterredet und redet und redet, dann werden diese kleinen Menschen unruhig. Manchmal wird der kleine Mensch sogar so unruhig, dass er zu lachen anfängt und dann tot umfällt.“

Am Schluss gilt die Ironie dann doch denjenigen, die sich für große Menschen und große Redner halten. Denn der kleine Mensch würde niemals sagen: „Ööööeähh! So blöd, wie du aussiehst, mit dir könnte man eine Kampagne machen, die dazu aufruft, sich nicht mehr fortzupflanzen. Und unter dein Bild könnte man schreiben: Willst du, dass es so weitergeht?“

Wie viele der Autoren, die beim Menschenversand publizieren, spielt Stauffer extrem geschickt mit Dialekten. Manchmal imitiert er einfach fremde Sprachmelodien. Solche Texte funktionieren natürlich vor allem live. Wie bei Musik, da reicht es auch nicht, nur die Partitur zu lesen. Wenn die beiden Michaels – Fehr und Stauffer – zusammen auftreten – wie heute Abend in Berlin –, sprechen die Veranstalter daher von einem „Sprachkonzert für zwei Stimmen“. Fehr zerfieselt das Schweizerdeutsche, variiert Adjektive, modelliert, plastiziert, schöpft und erschafft, bis der Hörer denkt, er stehe selbst im erzählten Raum: „mit einem Ruck hatte er sofort die lützele / also lottrige / lodelige / also lose / sperzige / also widerspenstige / also schwergängige / gierige / also quietschende Stalltüre aufgeschlagen (…)“

Es geht also doch auch um Bilder. Um innere.

CATARINA VON WEDEMEYER

■ Stauffer und Fehr lesen heute, 20 Uhr, in der Literaturwerkstatt Berlin