Im Dienste der Erzählung

KOLLEKTIV Nationalisierung und Ethnisierung sind das Ergebnis der Erinnerungspolitik nach 1989 in Osteuropa, dem „Schlachtfeld der Erinnerungen“

„‚Geschichte‘ wird als Transitraum in eine jeweils erwünschte Zukunft genutzt“

THOMAS FLIERL, ELFRIEDE MÜLLER

So unterschiedlich die Staatenbildung im ehemaligen Ostblock seit 1989 verläuft, eines ist ihr gemeinsam: die Suche nach den Gründungsmythen. Historische Ereignisse werden dabei geschichtspolitisch vereinnahmt und die Erinnerungspolitik zu einer nationalen Aufgabe – Europa hin, Europa her.

Die obsessive Vergegenwärtigung der eigenen Geschichte hat aber noch einen weiteren Grund. Über 40 Jahre lang stand die Erinnerung im Dienst der nationalkommunistischen Erzählung und wurde ausschließlich zur Legitimation der Machtansprüche bemüht – oder getilgt. Kaum ein Ereignis verdeutlicht dies besser als das Massaker von Katyn, bei dem 1940 auf Geheiß Stalins über 20.000 Personen der polnischen Elite ermordet wurden.

In Zeiten der Volksrepublik Polen verschwiegen bzw. Nazideutschland zugeschrieben, wurde die Aufarbeitung des Massakers zu einem der Gründungsmythen des demokratischen Polen. Erst kürzlich, als der polnische Präsident Lech Kaczynski auf dem Weg nach Katyn durch ein Flugzeugunglück ums Leben kam, erfuhr der Gründungsmythos eine Neuauflage.

„‚Geschichte‘ wurde und wird als ein Transitraum in eine jeweils erwünschte Zukunft genutzt“, schreiben Thomas Flierl und Elfriede Müller in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband „Osteuropa – Schlachtfeld der Erinnerungen“, der sich mit den Mechanismen und Instrumentalisierungen, denen die Erinnerungspolitik in den Staaten Osteuropas unterliegt, befasst. Schwerpunkt der Aufsatzsammlung ist Polen, und manch eine Analyse antizipiert das erinnerungspolitische Getöse seit dem Flugzeugabsturz von Katyn. So weiß man nach dem Beitrag von Agnieszka Pufelska über die „Exekutoren der polnischen Geschichtspolitik“, warum es nach dem zweiten Katyn kam, wie es kommen musste: minutiös vorbereitet von den Kaczynski-Zwillingen und ihrem Museum des Warschauer Aufstands. Hier werde ein heroisches Opfertum propagiert, anstatt eine kritische Betrachtung des Aufstands, in dem über 150.000 Zivilisten starben, anzubieten. „Eine solche Gedächtnismanipulation“, so Pufelska, „offenbart auf beschämende Weise das Bedürfnis, den Zwillingen einen festen Platz in der ,hall of fame‘ der nationalen Helden zu sichern.“ Die Renationalisierung der ehemals sozialistischen „Bruderstaaten“, so geht aus fast allen Beiträgen des Sammelbands hervor, geht mit einer Ethnisierung einher, die rassistische, antisemitische und ideologische Ausschlüsse produziert. Jan Bauer etwa beschreibt in seinem Beitrag über Tschechien und die Slowakei die Neuinterpretation des Prager Frühlings. Von den kommunistischen Machthabern noch als systemgefährdend unterdrückt, gelte er heute als Element der kommunistischen Diktatur. Der Status als emanzipative Alternative zum Realsozialismus werde ihm aberkannt.

Diese Aufsatzsammlung über den „Transitraum Geschichte“ in Osteuropa ist so wichtig, weil sie zeigt, wie viele Geheimgänge und Fallen es in diesem Raum gibt. Das, was dem Leser dank der analytischen Schärfe der Autoren vermittelt wird, macht es schwer, an einer Rede über eine kollektive europäische Erinnerung festzuhalten. Bis dorthin ist es noch ein weiter Weg.PHILIPP GOLL

■ Thomas Flierl, Elfriede Müller (Hg.): „Osteuropa – Schlachtfeld der Erinnerungen“. Dietz, Berlin 2010, 191 S., 16,90 Euro