„Man kann sich hier ohne Schussweste bewegen“

KIEZ In Berlin-Neukölln ist er aufgewachsen, in Kreuzberg als Polizist Streife gefahren, heute ist er Comedian: Einmal ums Karree mit Murat Topal

■ Geboren: 1975 als Sohn eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter in Berlin.

■ Geschrieben: „Der Bülle von Kreuzberg“, Ullstein-Verlag, 2010

■ In Arbeit: Das Comedy-TV-Format „Spezialauftrag“ für Sat.1 Comedy

■ Auch noch: Engagiert sich gegen Gewalt an Berliner Schulen

INTERVIEW MARTIN REICHERT
FOTOS SONJA TRABANDT

Der Spaziergang durch Deutschlands Vorzeigeghetto Neukölln beginnt in einem Hinterhof in der Sanderstraße. Hier, im Seitenflügel einer typischen Berliner Mietskaserne, ist Murat Topal aufgewachsen: Der Vater kam als Gastarbeiter nach Berlin, seine Mutter stammt aus Deutschland. Mit ihnen und seinen beiden Schwestern lebte Murat Topal in einer kleinen Zweiraumwohnung: Er blickt nach oben zu den Fenstern – und zurück in seine Vergangenheit.

Murat Topal: Das da links, das war die Küche, rechts das Bad. Das Schlafzimmer war noch einmal geteilt mit Schränken, in der einen Hälfte schliefen meine Eltern, in der anderen meine beiden Geschwister und ich. Und dort unter dem Fenster war mein kleiner Schreibtisch. Wenn ich die Schranktür aufgemacht habe, hatte ich mein Arbeitszimmer.

taz: Dort haben Sie immer brav Hausaufgaben gemacht?

Im Idealfall, ja … Nein, im Ernst, dafür haben meine Eltern schon gesorgt.

Ihre Eltern hatten den Ehrgeiz, dass aus den Kindern mal „was Besseres“ wird?

Das war so in der Generation meines Vaters, ein klassischer Gastarbeiter, der Ende der Sechziger herkam. Die wurden noch mit offenen Armen empfangen. Mein Vater sagte immer: Man soll keine Befehle empfangen, sondern welche erteilen.

Wir werden von einem Kleintransporter hupend in die Ecke des Hinterhofs gedrängt. Murat Topal schaut auf die Klingelleiste an der Haustür, „ach Gott, der wohnt immer noch hier“, murmelt er und tritt nach draußen auf den Bürgersteig.

Die heutigen „Problemkinder“ – ist das eine andere Generation?

Eigentlich müssten die doch viel integrierter sein. Sie sind hier geboren, ihre Eltern auch. Wobei einem das Wort Integration ja auch schon aus den Ohren herauskommt. Migrationshintergrund – Migränehintergrund nennt das mein Kollege Fatih Cevikkollu. Die Jugendlichen, die jetzt sechzehn sind, die machen die Probleme. Das kann man schwer begreifen. Das sind auch keine Ausländer, klar, sie haben zum Teil noch einen türkischen Pass. Aber sie sprechen die Sprache kaum, und dann laufen sie hier mit türkischen Devotionalien rum, Halbmondketten. Anderseits identifizieren sie sich so gar nicht mit ihrem eigenen Land.

Deutschland?

Ja, sie begreifen gar nicht, welche Chancen ihnen ihr eigenes Land bietet. Da setze ich auch oft an bei meiner Jugendarbeit, ich sage: Mit eurem Verhalten, das ihr hier an den Tag legt, wie weit glaubt ihr, würdet ihr damit in der Türkei kommen? Eine Zeit lang sind die Jungs hier in den Bus gestiegen und haben den Busfahrer verkloppt, so was würde in der Türkei absolut nicht laufen.

Warum nicht?

Weil die anderen Fahrgäste eingreifen würden. Insgesamt ist der Respekt vor den anderen Mitmenschen den Bach runtergegangen, jeder kümmert sich nur um sich selbst.

Hier haben alle Angst vor den jungen Menschen.

Die Leute müssten aber begreifen, dass diese Kinder die Zukunft sind, egal ob sie Achmed oder Paul heißen. Und es hat nichts mit Spießigkeit zu tun, wenn man den Kids mal sagt: Jetzt reißt euch mal zusammen. Es kann nicht sein, dass man vor einem vierzehnjährigen Pimpf Angst hat.

Wir sind nun am Zickenplatz – dem Place de la Concorde Neuköllns. Früher, als es hier noch ziemlich heruntergekommen und finster war, hat Murat Topal auf der Freifläche zwischen den Straßen gespielt. Am Rand des Platzes reiht sich ein Billigladen an den anderen: Mode aus Paris, Mode aus London, Mode aus Paris und London. Vor Kurzem hat daneben ein schickes türkisches Restaurant eröffnet, das auch in Istanbul sein könnte.

So elegante Läden gab es hier früher nicht.

Die wollen da jetzt mal Stil reinbringen, so für ihre Leute, nicht immer nur Dönerbude. Ich bin da aber zwiegespalten.

Als Mensch ohne Migrationshintergrund geht man da auch nicht ohne Weiteres rein.

Ja, warum eigentlich nicht?

Ich weiß nicht, da ist eine Hemmschwelle. Als ob man nicht hingehört.

Dabei sieht das doch total ansprechend aus.

Vielleicht geht niemand irgendwo gerne hin, wo er das Gefühl hat, eine Minderheit zu sein?

Vielleicht ist es genau das. Wir alle sollten mehr wagen. Ich habe natürlich den Vorteil, dass ich mich in zwei Welten bewegen kann. Ich meine, in so ein Altmännercafé mit Neonlicht würde ich auch nicht gehen … ach Gott, ich sehe gerade: der „Blaue Affe“, den gibt es auch nicht mehr!

Ja, die sogenannten Eckkneipen haben hier gerade einen schweren Stand, das Viertel wird „gentrifiziert“.

… ach Gott, hier, aus dieser Kneipe habe ich früher unseren Nachbarn abgeholt, also genau den, von dem ich eben gesagt habe, „der wohnt ja immer noch hier“. Meine Mutter hat immer darauf geachtet, dass er nicht sein ganzes Geld versäuft. Da drüben war „Der Hammer“, da ist jetzt ein Bettengeschäft drin.

Immerhin kein Wettbüro.

In jedem dritten Laden am Kottbusser Damm ist jetzt ein Wettbüro. Das ist doch klar, dass das Geldwäsche ist, und da müsste der Staat eigentlich einschreiten. Und davor hängen dann die Jugendlichen und zocken. Spielsucht ist bei der Generation echt ein Problem.

Ein Zeuge Jehovas kommt vorbei und drückt uns eine Broschüre in die Hand: Alles Leid wird bald enden. Wir gehen in’s Café Süß am Hermannplatz, gegenüber ist das größte Karstadtkaufhaus Deutschlands. Im Café Süß gibt es Filterkaffee für 60 Cent. Wer einen Latte will, so wie Murat Topal, zahlt 2,20 Euro. Ein Frühstück kostet 2,50 Euro, man kann es vor dem Laden auf der Straße essen. Draußen ist ein Höllenlärm, Blaulicht, Martinshorn: Polizei.

Wie alt waren Sie, als sie zur Polizei gingen?

Da war ich achtzehn, 1993, ich habe das mit der Polizei auch als Vorwand genommen, um das Abitur nicht machen zu müssen. Und dann war ich ja relativ schnell wieder im Kiez, ich musste in Kreuzberg Dienst tun …

War das unfair von der Berliner Polizei? Der Türke soll zu den Türken?

Ach nein, ich kann das schon nachvollziehen. Und die Erfahrungen, von denen ich jetzt als Künstler lebe, hätte ich als Polizist in Zehlendorf nicht machen können.

Sie haben den Dienst längst quittiert – gibt es so was wie einen Polizistenblick, den Sie immer noch haben?

Ja, schon. Mir fällt das auf, wenn ich mit anderen unterwegs bin. Ich beobachte die Szenerie anders, checke die Lage. Ich sehe sofort, wenn Dealer irgendwo ihren Geschäften nachgehen, auch wenn es sonst niemand merkt.

Ständig paradieren Kiezbewohner vorbei, die Murat Topal begrüßen, auch ein alter Klassenkamerad.

Mensch ja, wir sitzen hier genau gegenüber meiner Grundschule!

Wart ihr damals in der Grundschule mehrheitlich „Ausländerkids“?

Nein, bei uns war das richtig schön multikulti. Deutsche, Türken, Vietnamesen, Araber, ich würde sagen fünfzig Prozent Deutsche, aber wir hatten eine verbindliche Sprache: Deutsch.

Ich glaube, heute sind da kaum noch Kinder deutscher Eltern.

Das glaube ich auch.

Vier Polizisten in Uniform gehen an uns vorbei ins Café Süß, Murat Topal grüßt sie freundlich.

„Kollegen in der Wanne sagen: Scheißkanake. Dann sage ich: Können wir uns auf Scheißtyp einigen?“

Ja, das ist immer so: Wo es günstig ist, da trifft man Polizisten.

Wieso, die verdienen doch gutes Geld, sind Beamte?

Man spricht bei der Polizei von geregelter Armut. Aber das ist auch Klagen auf hohem Niveau. Man wird nicht reich, und man kann auch diskutieren, ob die Arbeit angemessen bezahlt wird, also bei denjenigen, die ihren Job wirklich gut machen.

Immer eingepfercht im Mannschaftswagen, der sogenannten Wanne …

In der Wanne war ich auch unterwegs. Das habe ich eben vergessen zu zeigen. Auf dem Kottbusser Damm steht auf dem Mittelstreifen doch ein Zaun, der die beiden Straßenseiten trennt. An einer Stelle ist der komplett umgebogen. Und das waren wir – am 1. Mai.

Mit der Wanne reingesemmelt?

Nein, von unserem Gewicht niedergedrückt. Wir mussten schnell auf die andere Seite, weil dort Autos angezündet werden sollten. Der Zaun ist immer noch umgeknickt, dabei ist das schon zehn Jahre her.

Was war da los?

An der „Ankerklause“, einer Kneipe vorne am Kanal, fing es an, da wurden wir mit Stühlen beworfen. Wir dann hinterher, bis in die Sanderstraße, zu dem Haus, in dem meine Eltern noch immer wohnten. Da wollten die Autonomen ein Gerüst auseinandernehmen und uns bewerfen. Dann kam aber mein Vater so im Unterhemd dazu und sagte: „Entschuldigung, ich bin hier Hausmeister und könnt ihr mal aufhören, ich bekomme hier voll Stress.“ Dann haben die echt aufgehört!

Aus Ihrem Buch klingt heraus, dass Sie nicht glücklich waren bei der Berliner Polizei.

Es war nicht mein Kindheitstraum, zur Polizei zu gehen. Aber ich habe dann während der Ausbildung einen sehr starken Idealismus entwickelt. Ich wollte wirklich etwas Gutes tun für die Gesellschaft. Das war blauäugig, die Arbeit wird nicht honoriert. Weder von Vorgesetzten noch von den Bürgern.

Grund genug, den Job zu kündigen?

Na ja, da hängst du im Winter stundenlang im Gebüsch da drüben und versuchst einen Dealer festzunehmen. Und dann hast du ihn und der lacht dich aus. Kaum haben wir unseren Schriftkram gemacht, ist der schon wieder draußen. Und dann sitzt du mit den Kollegen in der Wanne und die sagen „Scheißkanaken, Scheißtürke“. Und dann habe ich gesagt: Können wir uns auf Scheißtyp einigen?

Wurden Sie ernst genommen?

Das habe ich mir hart erarbeitet, dieses Standing, ja.

Die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig …

Krass, ja, das ist kaum zu glauben!

hat sich vor Kurzem umgebracht. Sie hatte sich mit jugendlichen Straftätern befasst, mit Kriminalität im Migrantenmilieu. Sie war sehr umstritten. Wie bewerten Sie ihre Arbeit im nachhinein?

Sie hatte unter anderem geschlossene Heime für jugendliche Straftäter gefordert. Das ist aber die Vorstufe zum Knast. Man sperrt das Problem weg. Man hat sein Arbeitszimmer nicht aufgeräumt und schließt dann die Tür ab. So ist das. Aber was fehlt, da hatte sie recht, ist die Konsequenz. Man muss die Dinge in aller Härte und Klarheit ansprechen. Man muss, glaube ich, an die Eltern ran – aber wenn ich denen die Sozialhilfe kürze, schade ich damit auch wieder den Kindern. Das ist ein schwieriges Thema. Es läuft an dem Punkt zusammen, dass unsere Gesellschaft irgendwie auseinandergefleddert ist. Früher hatte man ein Auge aufeinander …

hat ältere besoffene Nachbarn aus der Kneipe abgeholt …

Ja, eben. Wir leben doch nun mal alle hier. Ich arbeite ja auch mit Jugendlichen. Man muss mit denen reden, ihr Herz öffnen. Erst mal sind die total cool. Aber dann sagte mal einer zu mir: Weißt du, meine Mutter ist gestresst, die hat sechs Kinder. Und dann gehe ich eben einfach raus, auf die Straße. Die Eltern sind total überfordert – und den Kids fehlt einfach der Rahmen.

Ein Golf fährt mit geschätzten neunzig Stundenkilometern über die Kreuzung, Murat Topal schaut dem Wagen streng hinterher. „Anne, Anne, Anne“, schreit ein kleines Mädchen vor ihm, es ruft auf Türkisch nach seiner Mutter. Eine verhärmte Obdachlose schwankt vorbei, fragt leise, kaum verständlich, nach etwas Kleingeld.

Würden Sie eigentlich ihre eigenen Kinder hier in ihre ehemalige Schule am Hermannplatz schicken?

Nein, das wäre mir zu riskant. Und ich weiß nicht, wie ich das lösen soll. Das bringt mich auch zur Verzweiflung. Bei mir im Freundeskreis bekommen jetzt alle Kinder. Wir entfernten uns von unserem Herkunftsmilieu, gehen ins beschaulichere Britz – so wie ich –, nach Tempelhof, Schöneberg. Und hier wird alles immer schlimmer. Aber was sollen wir denn machen?

Wir gehen weiter in die Friedelstraße – die Polsterwerkstatt an der Ecke ist nicht mehr da, dort ist gerade ein Bioladen eingezogen. Gegenüber ist ein türkischer Puff, wir gehen aber zum „Theater im Keller“, einer winzigen Travestiebühne, die allerdings im Erdgeschoss liegt. Der Star der Travestieshow, Michael Brenncke, läuft vorbei und grüßt, ohne Kleid und Schminke.

Auf so einer ähnlichen kleinen Bühne, der Scheinbar, wo auch Kurt Krömer bekannt wurde, hatten sie ihren ersten Auftritt.

Das war im Februar 2004 – und die Leute haben gelacht. Danach war ich bei Ades Zabel in der Talentschmiede, wenig später hatte ich dann mein erstes Abendprogramm in der Ufa-Fabrik. So lief das. Da habe ich sechs Wochen lang vor ausverkauftem Haus gespielt. Ein extremes Gefühl war das, in der kleinen Garderobe: Da kommen Leute, um dir zwei Stunden zuzuhören.

Was haben Sie ihnen zu sagen?

Ich erzähle von mir. Das hat alles mit meinem Leben zu tun. Außerhalb Berlins können viele gar nicht glauben, dass ich wirklich bei der Polizei war, die denken, das ist eine Kunstfigur. Exbulle aus Kreuzberg.

Sind Sie ein Übersetzer?

„Es hat nichts mit Spießigkeit zu tun, wenn man den Kids sagt: Jetzt reißt euch mal zusammen“

Ich möchte ein Vermittler sein. Ich möchte schon die Dinge darlegen, die mich selbst auch beschäftigen. Ich mache kein politisches Kabarett, aber Denkansätze kann man mitnehmen.

Machen Sie nicht auch Travestie? Männer im Rock, Türken mit Baseballkappe und Gangsta-Sprech?

Ja, richtig, ich arbeite mit Klischees. Ich breche die dann aber auch. Ich möchte niemanden diffamieren und verletzten dabei. Es geht darum, zu vermitteln. Hinter den Klischees steckt auch immer ein Stück Wahrheit. Schwule kommen auch in meinen Shows vor, und da haben sich mal zwei beschwert, weil ich das Wort Tunte verwendet habe. Aber schwule Freunde haben mir gesagt, dass es spaßbefreite Schwule geben kann …

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Schwulen und Türken? An ihnen kleben lauter Etiketten.

Man muss sich dem einfach stellen.

Humor hilft?

Humor und Tragik liegen nahe beieinander.

Ist das Fremde für die Menschen eine Zumutung?

Wir empfinden das mittlerweile so. Ich kann das nachvollziehen: Die einen wollen da ein Minarett, die anderen gegenüber eine Schwulenkneipe und so weiter. Das müssen wir uns aber zumuten.

Wir haben diesen Spaziergang durch Neukölln überlebt …

Ich hatte hier noch nie Stress.

Ich auch nicht.

Vielleicht ist es hier ja auch ganz entspannt?

Weiß das Publikum im Rest Deutschlands eigentlich, was gemeint ist, wenn Sie „Neukölln“ sagen?

Aber ja. Ich sage dann immer, dass das ein Ort ist, an dem viele Minderheiten wohnen. Zum Beispiel solche mit Schulabschluss. Ich versuche den Leute klar zu machen, dass das alles schon auch einen gewissen Charme hat. Man kann sich hier ohne Schussweste bewegen.

Martin Reichert, Jahrgang 1973, ist sonntaz-Redakteur und wohnt in Neukölln. Über ihm lebt ein Jugendfreund Murat Topal

Sonja Trabandt, Jahrgang 1978, ist Fotografin und wohnt weiter östlich in Berlin-Friedrichshain. Bald will sie nach London ziehen