„Die Hisbollah ist keine Terroristengruppe“

Der Krieg stärkt die Hisbollah, meint die Schriftstellerin Iman Humaidan Junis. Die Organisation sei aus gutem Grund ein Staat im Staate – sonst habe sich niemand um die Schiiten gekümmert

INTERVIEWALFRED HACKENSBERGER

taz: Der Süden Beiruts bietet ein schreckliches Bild der Verwüstung. Haben Sie diese unerbittliche Reaktion Israels erwartet?

Iman Humaidan Junis: Nein, absolut nicht. Wie alle anderen führte ich ein normales Leben. Am 12. Juli traf ich mich mit einem befreundeten Maler. Bevor wir in ein Café gingen, sagte er mir, um neun Uhr früh habe die Hisbollah zwei israelische Soldaten entführt. Wir waren zwar besorgt, konnten uns aber diese unglaubliche Zerstörung und Gewalt nicht vorstellen, mit der die Israelis reagierten. Wir dachten, es würden wie üblich einige Hisbollah-Stellungen im Süden bombardiert, aber dass sie nach Beirut kommen und all diese zivilen Einrichtungen zerstören, daran dachten wir nicht.

Die Israelis sagen, dass sie nur die Infrastruktur der Hisbollah zerstören.

Selbst wenn es Einrichtungen der Hisbollah waren – in Beirut sind das Schulen, Krankenhäuser oder Gemeindezentren. Hisbollah ist ein Staat im Staate, was soziale Dienste anbelangt. Der libanesische Staat hat immer versagt, soziale Leistungen zu liefern, gerade in den schiitischen Vorstädten.

Manche werfen Hisbollah vor, mit ihren sozialen Leistungen die Menschen zu ködern.

Das hat einen völlig anderen Hintergrund. Die Schiiten waren seit der Unabhängigkeit viele Jahre lang der Teil der libanesischen Bevölkerung, der am meisten benachteiligt und erniedrigt wurde. Die schiitischen Wohngebiete waren beispielsweise nicht an die städtischen sozialen Dienste angeschlossen. Hisbollah hat das geändert, und das ist der eigentliche Grund, warum sie heute ein Staat im Staate ist. Mit Rattenfängerei hat das absolut nichts zu tun.

Aber ihren sozialen Leistungen verdankt Hisbollah ihre Popularität.

Ja, warum auch nicht. Wie in Schweden oder Spanien bekommen Mütter Kindergeld und können im Krankenhaus umsonst entbinden. Was soll daran schlecht sein?

Machen Sie Hisbollah für den israelischen Angriff, für die Zerstörung des Libanons verantwortlich?

Das halte ich für eine triviale Frage. Typisch amerikanisch: Für oder gegen uns? Die Wirklichkeit ist viel komplexer.

Es gibt aber viele Menschen, die verärgert sind.

Alle, die Hisbollah heute verantwortlich machen, tun das aus einem politischen Blickwinkel, den sie schon vor diesem Krieg hatten. Wenn ich ehrlich bin, ich wollte es natürlich nicht, dass Hisbollah die beiden Soldaten entführt. Nicht, weil ich glaube, sie wären etwa nicht legitimiert dazu. Nein, ich glaube, dass unser Feind Israel eine unglaublich herzlose, kalte, blinde Macht ist, die ohne jede Menschlichkeit Gewalt gegen Zivilisten ausübt. Wir im Libanon erfahren das seit 1967. Als kleiner Staat müssen wir andere Wege als eine gewaltsame Auseinandersetzung suchen. Wir brauchen Friedensverhandlungen über diplomatische Wege.

Gibt es dieser Tage Friedensinitiativen oder sogar eine Friedensbewegung?

Von einer Bewegung kann man nicht sprechen. Aber es gab zwei, drei kleinere Demonstrationen für einen sofortigen, bedingungslosen Waffenstillstand. Am Märtyrerplatz treffen sich täglich um 18 Uhr einige Friedensaktivisten, soweit ich weiß.

Was denken Sie, wird passieren, wenn Hisbollah auf irgendeine Weise zum Sieger wird?

Am Ende wird es wie üblich zwei Sieger geben: Israel und Hisbollah. Verlierer sind wie immer die Zivilisten. Nicht zu vergessen die Ökonomie des Landes. Durch den Krieg werden wir zu Bettlern gemacht, die die internationale Staatengemeinschaft um Hilfe bitten müssen.

Bedeutet der Krieg das Ende eines demokratischen Libanons?

Nein, so pessimistisch bin ich nicht. Nach dem Bombenattentat auf Hariri sind wir wirklich in jeder Beziehung aus dem dunklen Tunnel gekommen. Wir haben einen nationalen Dialog begonnen, trotz aller politischen und religiösen Unterschiede. Selbst die Hisbollah hat daran teilgenommen und angefangen, über ihre Existenz zu diskutieren. Dieser Dialog wird auch nach dem Ende des aktuellen Konflikts weitergehen.

Israel und die USA wollen in ihrem Projekt vom neuen Nahen Osten keine Hisbollah akzeptieren. Deshalb wird ja auch Krieg geführt.

Sie können die Hisbollah nicht zerstören, genauso wenig wie sie das mit den Taliban, dem Widerstand im Irak und mit Bin Laden konnten. Ach, ich möchte Bin Laden und die Hisbollah nicht in einen Topf werfen, das sind ja zwei völlig verschiedene Dinge. Ich verstehe die Hisbollah nicht als Terroristengruppe. Sie unterstützen rund 700.000 Menschen im Libanon, etwa 28 Prozent der Gesamtbevölkerung. Mit einer Terroristenhatz erreicht man gegen eine Volksbewegung nichts. Leider wissen Israel und die USA nicht, wie man Konflikte, außer mit Gewalt, löst. Und Gewalt führt zu Gegengewalt.

Sie haben schon den Bürgerkrieg im Libanon miterlebt. Ist die heutige Krise nur eine von vielen?

Nein, das ist eine ganz besondere. Im gesamten Bürgerkrieg habe ich keine solche Angst wie heute verspürt. Im Bürgerkrieg gab es immer Hoffnung auf Verhandlungen, die die Menschen wieder zusammenbringen würden. Die Hisbollah kämpft heute um ihre Existenz, was bedeutet, dass es bis zum Ende geht.

Und Israel wird auch bis zum Ende gehen?

Nein, das bezweifle ich. Israel hat zwar eine moderne Militärmaschine, aber bis zum Ende, wie die Hisbollah, können sie nicht gehen. Die gesamte Ideologie der Hisbollah basiert auf dem Märtyrertum. Sie lieben es, zu sterben. Die ganze Strategie Israels zielt darauf, ihre Staatsbürger am Leben zu halten. Das ist ein totaler „Clash“ von Ideologien.

Sie arbeiten in einer Hilfseinrichtung für Flüchtlinge aus dem Süden. Wie stehen diese zur Hisbollah?

Sie sind ausgebombt, haben alles verloren und befinden sich in einer ausweglosen Situation, aber sie sind nach wie vor loyal zur Hisbollah. Sie werden auch dann nicht beginnen, die Hisbollah zu verteufeln, wenn der Konflikt noch Monate andauert. Sie hat den Schiiten nach all den Jahren der Erniedrigung ihre Würde wiedergegeben. Selbst, wenn man sich mit den Kindern unterhält, für die ein Krieg eine unheimliche psychische und physische Belastung ist, sagen die nur eins: Gott im Himmel und Nasrallah auf Erden.