Sirenen in Haifa

Post aus Nahost (1): Ron Kehrman berichtet über Raketen und Katzen und eine Stille, der er nicht trauen kann

Schalom, liebe Freunde!

Wie fasse ich diesen Tag in Haifa zusammen? Heute Morgen ging ich etwas früher zur Arbeit als üblich. Wobei es seltsam ist, ein Wort wie „üblich“ zu verwenden, weil ich damit nur die vergangenen 15 Tage meine. Das könnte ein schlechtes Zeichen sein: Ich gewöhne mich an den Krieg und ICH WILL DAS NICHT.

Heute habe ich wieder das Lokalradio angestellt. Normalerweise höre ich diesen Sender nicht, aber er ist der Einzige, bei dem ich die Sirenen in Echtzeit hören und innerhalb von 30 Sekunden Schutz suchen kann, was in den letzten 15 Tagen viele Leben gerettet hat. Wenigstens gibt es Sirenen in Haifa; ich weiß, dass sie in Beirut überhaupt keine Sirenen haben.

Dieser Krieg ist Israel und dem Libanon von Iran und der Hisbollah aufgedrängt worden. Und es schmerzt mich, die Verwüstungen im Libanon zu sehen.

Ich bin Vater zweier Töchter, Tal und Dror. Dror wird am 1. August 15 Jahre alt, und Tal wäre inzwischen 21, wenn sie noch leben würde. Aber am 5. März 2003 ist ein islamistischer Terrorist, ein Informatikstudent, in Haifa zu ihr in den Bus gestiegen, hat jedes der Kinder dort einzeln ins Auge gefasst und schließlich seinen Gürtel gezündet. Es war eine Bombe, wie sie auch heute verwendet werden. Sprengstoff, gefüllt mit Splittern, um Hass zu säen und wahllos Zivilisten zu töten. Was auch immer die Ziele dieses Krieges sein mögen – die Lösung ist keine militärische Lösung. Nach dem Krieg werden sich die Parteien hinsetzen und reden müssen, um eine Einigung zu finden. Warum tun sie das nicht schon heute und vermeiden damit ohnmächtiges Leid und Zwietracht? Auf dem Weg zur Post ertappte ich mich heute dabei, wie ich nach einem geschützten Ort Ausschau hielt, falls die Sirenen losgehen sollten. Es war dasselbe Gefühl wie vor ein paar Monaten, als der palästinensische Aufstand begann. Dasselbe Gefühl der Unsicherheit wie damals, als die Terroristen mitten unter uns waren und niemand wusste, wo und wann sie erneut losschlagen – nur dass es heute Raketen sind und niemand weiß, wann und wo sie einschlagen. Ein Gefühl der Spannung, alleine auf einer leeren und sehr ruhigen Straße. Auf dem Marktplatz von Haifa schließen die Geschäfte neuerdings schon um die Mittagszeit, gegen sechzehn Uhr ist dort alles besenrein und verlassen.

Bei einer der letzten Sirenenwarnungen habe ich ein älteres Ehepaar eingeladen, in meinem Büro Schutz zu suchen. In den paar Minuten, die wir zusammen verbrachten, erzählten sie mir von ihrer Katze. Eine Rakete hatte gestern das Haus der Nachbarn zerstört, und die Katze weigerte sich noch Stunden danach, unter dem Bett hervorzukommen. Wer sagt, dass Katzen nicht smart sind?

Das war’s für heute, ich grüße aus Haifa, Israel. Ron.

Ron Kehrman schreibt im Wechsel mit Iman Humaidan Junis aus dem Kriegsgebiet. kultur SEITE 15