nebensachen aus istanbul
: Der türkische Sommertraum abseits ausgelatschter Touristenpfade

Wer in diesen Tagen mit Leuten spricht, die ihr Geld im Tourismus verdienen, könnte meinen, die Türkei stehe vor ihrem endgültigen wirtschaftlichen Ruin. Pleiten, Pech und Pannen heißt der Dreiklang dieses Sommers. Die Zahl der Touristen ist um rund zehn Prozent zurückgegangen. Angefangen vom Fremdenführer an der Ausgrabungsstätte in Troja über die Hoteliers an der Ägäis bis zu den großen All-inclusive-Bettenburgen an der türkischen Riviera – alle klagen über ausbleibende Gäste, leere Kneipen und unfähige Politiker, die daran schuld sind.

Doch es gibt Ausnahmen von dieser Regel, Orte, die aus dem Jammertal herausragen wie Oasen der Sommerfreude. Die sind in den Buchungscomputern der internationalen Reiseagenturen zumeist gar nicht verzeichnet. Deshalb finden sich auch nur ausnahmsweise ausländische Touristen, deren Bürger normalerweise die Strände bevölkern, dort wieder. Es sind die staatlichen Campingplätze des Landes, verwaltet vom Forstwirtschaftsministerium, die, fast immer hervorragend gelegen, durch behördlich festgelegte Preistabellen einen Urlaub erschwinglich machen.

Während die armen Leute Istanbuls oder Ankaras im Sommer in die Dörfer zurückkehren, aus denen ihre Väter und Mütter in die Großstadt ausgewandert sind, trifft sich hier die türkische Mittelschicht. Deren Einkommen reicht nicht für einen teuren Urlaub in den touristischen Hochburgen, geschweige denn für einen Auslandsurlaub. Dafür wird das Camping zu einer ausgedehnten Sommerfrische, die gut zwei Monate dauern kann.

Während viele Strände vor den großen Hotels leer bleiben, herrscht hier Hochbetrieb. Der klassische türkische Camper hält dabei nichts von Outdoor-Askese, superleichten Zelten und kargen Schlafmatten. Im Gegenteil, beim Camping soll es einem gerade an nichts fehlen. In vielen türkischen Dörfern gibt es bis heute noch die Tradition der Sommerweide. Das ganze Dorf zieht mit dem Vieh auf höher gelegene Weiden, wo es nicht so heiß und das Gras noch frisch ist. Camping in der Türkei lehnt sich an diese Tradition an.

Zuerst erscheint in der Regel ein männliches Vorauskommando mit einem ausladenden Hauszelt im Kofferraum und sichert sich einen möglichst guten Platz am Wasser. Dann wird aufgebaut. Doch bevor der Rest der Familie erscheint, kommt ein kleiner Möbelwagen. Kühlschrank, Küchenzeile, Betten und Teppiche werden abgeladen, um es sich so gemütlich wie möglich zu machen. Der entscheidender Unterschied zum trauten Heim in der Stadt: Der Fernseher bleibt zu Hause. Das hat auch den schönen Effekt, dass sich abends im Campingplatz-Restaurant, ebenfalls wie in alten Zeiten, die Leute um den einzigen Fernseher versammeln und jeden Film wieder zu einem kommunikativen Event machen.

Es wird über alles geredet, nur nicht über Politik. Niemand will sich von Korruptionsaffären, Präsidentschaftswahlen oder sonstigen Ärgernissen des Alltags langweilen lassen. Wenn am Abend alle um den Grill am Strand versammelt sind, ist die türkische Familie dagegen ganz unter sich. Nachdem die Mama den ganzen Nachmittag an ihrer offenen Küchenzeile hantiert hat, gibt der Papa den großzügigen Gastgeber für die Nachbarschaft. Hier ist von Wirtschaftskrise, Tourismusflaute und fehlenden Deviseneinnahmen nichts zu spüren.

Wer wissen will, wie die Leute zehn Monate im Jahr mit den Widrigkeiten des Alltags zurechtkommen, muss sich ein türkisches Sommercamp anschauen. Zwei Monate Sommertraum können bis zum nächsten Jahr vorhalten. JÜRGEN GOTTSCHLICH