Ein Hauch von Frühling

DEMONSTRATIONEN Nach dem Ausbruch der Gewalt in Bosnien-Herzegowina blieb das Wochenende trotz neuer Kundgebungen friedlich

AUS SARAJEVO ERICH RATHFELDER

Der Protest in Bosnien und Herzegowina bricht nicht ab. Erneut haben sich am Sonntagnachmittag Tausende Menschen in Sarajevo versammelt. Sie blockierten Straßen und zogen vor das Polizeigebäude im Zentrum der bosnischen Hauptstadt, um die Freilassung aller festgenommenen Demonstranten zu fordern. Bis Redaktionsschluss verlief die Protestaktion friedlich.

Der Gewaltausbruch der letzten Tage scheint vorbei zu sein. „Wir haben erreicht, was wir wollten“, erklärten militante Teilnehmer der Proteste schon in der Nacht zu Sonnabend, „die Bilder von brennenden Gebäude gingen um die Welt.“ Den Demonstranten geht es um die Botschaft: Schaut mal wieder auf Bosnien, wir haben hier gravierende Probleme. Und die Warnung an die eigenen Politiker: So wie bisher könnt Ihr nicht weitermachen.

Begonnen hatten die Massenproteste Mitte vergangener Woche in der nordostbosnischen Industriestadt Tuzla, wo arbeitslose Arbeiter schon seit Monaten vor dem Kantonsgebäude gegen die Privatisierung mehrerer Firmen demonstrieren. Deren Direktoren werfen sie vor, die Unternehmen bewusst gegen die Wand gefahren und sich – gedeckt von Politikern – aus der Konkursmasse bereichert zu haben. Die Protestbewegung ist spontan, hat keine Führer und verfügt nur über ein Diskussionsforum: das Internet. Ihre Brisanz zieht sie aus der katastrophalen sozialen Lage im Land.

Am vergangenen Mittwoch sangen die Arbeitslosen wie schon zuvor kämpferische Lieder, hielten Plakate mit dem Konterfei des Staatsgründers des sozialistischen Jugoslawien, Josip Broz Tito, hoch und schwenkten die alte bosnische Flagge mit der Lilie. Die Kantonsregierung forderten sie zu einem Gespräch auf. Als aber auch diesmal niemand kam, versuchte eine Gruppe der Arbeiter, sich Zutritt zum Gebäude zu verschaffen. Zwar wurden sie von der Polizei abgedrängt, aber die Auseinandersetzung alarmierte die Facebookgemeinde der Stadt. Junge, gut ausgebildete, aber angesichts der sozialen Lage deprimierte und perspektivlose Leute schlossen sich den Arbeitern an – der Beginn einer militanten Konfrontation.

Am Donnerstag fanden ähnliche Demonstrationen in fast allen Städten und Gemeinden der Föderation statt, denn die sozialen Probleme sind überall ähnlich gelagert. Viele der Demonstranten fordern den Rücktritt ihrer jeweiligen Kantonsregierung, in Tuzla brannte das Verwaltungsgebäude des Kantons, in Städten wie Bihac, Zenica und Mostar kam es zu Straßenschlachten mit der Polizei.

Die Lage spitzte sich weiter zu, als einige Tausend Menschen am Freitag in Sarajevo nicht nur das Kantonsgebäude angriffen, sondern auch das politische Herz Bosnien-Herzegowinas, das Präsidentschaftsgebäude, in Brand steckten. Insgesamt wurden über 200 Menschen verletzt, 34 wurden allein in Sarajevo festgenommen.

Die Bilder aus Sarajevo haben hohe Symbolkraft. Die Demonstranten, unter denen sich mittlerweile durchaus respektable Mitglieder der Mittelschicht befinden, fordern nicht nur den Rücktritt der Kantonsregierungen – die Regierungschefs der Kantone Tuzla und Sarajevo sind am Freitag bereits zurückgetreten –, sondern implizit eine Änderung der Verfassung des bosnischen Staates. Zudem wenden sie sich gegen die nationalistischen Parteien, die das Land unter sich aufgeteilt haben.

In Mostar griff am Freitag eine aus Kroaten und Bosniaken bestehende Menge von 2.000 Menschen neben den offiziellen Gebäuden des Kantons und der Stadt auch die Hauptquartiere der kroatischen nationalistischen HDZ und der muslimischen Nationalpartei SDA an.

In der serbischen Teilrepublik blieb es dagegen weitgehend ruhig, nur wenige Hundert Menschen demonstrierten dort in den Städten Prijedor und Banja Luka, stellten jedoch ähnliche Forderungen auf.

Nach anfänglichem Schweigen schlugen die Politiker in Sarajevo zurück. Während die Tageszeitung Dnevni Avaz positiv über die Bewegung berichtete und auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen objektiv die Lage beschrieb, bezeichneten die den Parteien nahestehenden Medien die Demonstranten als „Hooligans“. Der bosniakische Vertreter im Staatspräsidium und SDA-Politiker Bakir Izetbegovic beklagte die Zerstörungswut der Demonstranten. Nationalistische Medien berichteten über den angeblichen Fund von sieben Kilogramm „Drogen“ in Zusammenhang mit den Demonstranten.

Der Gewaltausbruch in Bosnien hat viele Menschen verunsichert, vor allem die Gerüchte über die Zerstörung eines historisch wichtigen Archivs im Kantonalgebäude. Nach Angaben der bekannten Filmemacherin Jasmila Spanic konnte jedoch ein großer Teil des Archivs gerettet werden. Nach persönlichen Eindrücken und Gesprächen sympathisiert der Großteil der Bevölkerung in Sarajevo weiterhin mit den Demonstranten.

Milorad Dodik, der starke Mann in der Republika Srspka, erklärte die Demonstrationen zum Angriff auf den Bestand seines Teilstaates. Auch die kroatischen Nationalisten sehen die Demonstrationen als Angriff gegen sich selbst, was in Mostar durchaus zutreffend ist. Die serbischen und kroatischen Nationalisten hätten eine Heidenangst davor, dass der Funke auf ihr Gebiet überspringt, konterte der bosnisch-serbische Intellektuelle Srdjan Puhalo.

Die militanten Demonstranten in Sarajevo erklärten am Freitag, nun müssten oppositionelle Intellektuelle und Kritiker des Systems die politische Führung der Protestbewegung übernehmen. Bisher gibt es dafür allerdings noch keine Anzeichen. „Unsere Forderungen stehen jedenfalls im Internet“, sagte ein Demonstrant gegenüber der taz (siehe Text unten).