„Wir sitzen jetzt zwischen allen Fronten“

Im Irak finden ethnische Säuberungen zwischen Sunniten und Schiiten statt, sagt der Filmemacher Osama Rasheed. Viele Iraker sind deswegen nach Damaskus geflohen – und fürchten sich dort vor einer Ausweitung des Libanonkriegs

taz: Herr Rasheed, Sie sind nun seit einigen Wochen in Berlin. Wie sehen Sie die Berichterstattung hiesiger Medien zum Irak?

Osama Rasheed: Ehrlich gesagt war und bin ich doch etwas überrascht über die Diskrepanz zwischen dem, was vor Ort passiert, und dem, was hier als Nachricht ankommt. Wir wissen, dass sich Journalisten in Bagdad kaum noch auf die Straßen trauen, weil es zu gefährlich ist. Dennoch bin ich über das Ausmaß der Uninformiertheit oder auch Gleichgültigkeit irritiert. Da ich tagtäglich in Kontakt mit meiner Familie bin, weiß ich, unter welcher Anspannung die Menschen dort leben.

Was machen die ausländischen Reporter vor Ort?

Die meisten ausländischen Journalisten bleiben in ihren Hotelzimmern und warten auf ihre Informanten, die sie über die Geschehnisse in der Stadt unterrichten. Echte Recherche ist da nicht mehr möglich.

Was berichtet Ihnen Ihre Familie aus Bagdad?

Den täglichen Horror: Menschen werden entführt und getötet. Immer wieder werden dutzende von Leichen in ausgetrockneten Kanälen gefunden, ohne Ausweispapiere oder andere Zeichen ihrer Identität. Man weiß weder, wer sie sind, noch wer sie getötet hat, und man kann auch nicht mehr nachvollziehen, wer dahintersteckt. Neben diesen fürchterlichen Morden wird die Stadt derzeit zudem willkürlich in kleine Bereiche unterteilt.

Was meinen Sie damit?

Plötzlich tauchen überall Checkpoints auf, die von sunnitischen und schiitischen Milizen kontrolliert werden, die die Stadtteile unter sich aufteilen. Diese Checkpoints werden teilweise nur für ein paar Stunden aufgebaut, können aber auch über mehrere Tage hinweg bestehen bleiben.

Wissen Sie, wer dahintersteckt?

Auch dies ist unklar. Diese Milizen müssen nicht unbedingt aus Bagdad selbst kommen, da gibt es unterschiedliche Vermutungen. Sie kommen und verschwinden wieder und verbreiten Angst und Schrecken. Wenn es Sunniten sind, sollte man kein Schiit sein. Ist es ein schiitischer Checkpoint, dann wird man als Sunnit aussortiert, verhaftet, entführt oder gleich getötet.

Können sich die Menschen da überhaupt noch bewegen?

Schon, aber man weiß nie, ob man wieder heil nach Hause kommt. Erst vor ein paar Tagen wurden 25 Menschen aus ihrem Büro heraus entführt, andere aus einem Telefonladen! Wer kann, flieht deshalb aus Bagdad.

Und wohin?

Nach Damaskus. Syrien ist das einzige Nachbarland, das keine Einreisesbeschränkungen für Iraker kennt. Alle anderen arabischen Staaten haben die Einreise erschwert oder unmöglich gemacht. Jordanien hat vor kurzer Zeit einen neuen Erlass herausgegeben, keine irakischen Männer im Wehrdienstalter einreisen zu lassen – darunter verstehen sie Männer zwischen 15 und 55. Also bleibt nur noch Syrien.

In Damaskus stranden ja schon viele Flüchtlinge aus dem Libanon. Muss man sich um die Situation sorgen?

Ja, denn wie soll die Stadt mit der Situation umgehen? Schätzungsweise eine Million Iraker halten sich derzeit in Damaskus auf, vielleicht auch mehr, und die Versorgungslage spitzt sich zu. Viele befürchten auch, dass Syrien in den Libanonkrieg gezogen wird. Meine Schwester ist vor zehn Tagen mit ihrer Familie nach Damaskus geflohen und bereitet sich dort mit Hamsterkäufen auf eine zweite Front vor.

Wenn sich die Lage im Irak nicht beruhigt, was wird Ihre Familie machen?

Sie steht vor der Wahl zwischen dem Bürgerkrieg in Bagdad und dem Chaos in Damaskus. Die Leute sind müde und wollen nur endlich in Ruhe ihr Leben leben. Doch es scheint, als sei dieser Wunsch ein Luxus.

Könnten die USA im Irak nicht für Sicherheit sorgen?

Ich glaube nicht. Das hat weniger mit der Zahl der Soldaten zu tun als vielmehr mit der Frage, ob und wie sie eingreifen. Zu spüren bekommen haben wir das während der Wahlen: Innerhalb von drei Tagen sorgten sie für Ruhe und Ordnung, damit die Wahlen vonstatten gehen konnten: Ein politisch wichtiger Moment, dessen Ausgang im Interesse der Amerikaner war.

Meinen Sie etwa, die USA hätten jetzt kein Interesse mehr an einer Befriedung des Iraks?

So hart würde ich das nicht formulieren. Aber Tatsache ist, dass jedes Land im Irak nur seine eigenen Machtinteressen verfolgt und diejenigen Gruppen unterstützt, die seinen Interessen am nächsten stehen. Das gilt für den Iran, Syrien, die Türkei, Saudi-Arabien, aber auch die USA. Im Land selbst verfolgt jeder nur noch seine eigenen Mikrointeressen, seien sie religiös oder ideologisch bestimmt. Das war früher nicht so. Früher haben wir nie nach Schiiten oder Sunniten unterschieden.

Droht der Irak auseinanderzubrechen?

Schwer zu sagen. Der Zeitpunkt, als die Entwicklungen noch vorhersehbar waren, ist längst überschritten. Diejenigen, die etwas zum Besseren verändern wollen, verlassen nach und nach das Land, weil sie nicht mehr können. Jeder denkt jetzt nur noch an sein Überleben.

INTERVIEW: ALIA RAYYAN