Bundestag war kein Hort der Stasi-Spitzel

Die Freunde sensationeller Enthüllungen aus der Welt der Geheimdienste sehen sich enttäuscht: Anders als vermutet saßen nicht Scharen von IMs im Parlament. Vielmehr hat die Stasi Willy Brandt und Franz Josef Strauß ohne deren Wissen „abgeschöpft“

AUS BERLIN CHRISTIAN SEMLER

Liebhaber sensationeller Enthüllungen aus dem dunklen Reich der Geheimdienste sahen sich diese Woche gleich zweimal frustriert. Zum Ersten: Die Birthler-Behörde veröffentlichte Akten von 16 Bundestagsabgeordneten aus der Legislaturperiode 1969–72, die der DDR-Auslandsgeheimdienst Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) angelegt hatte. Aus ihnen geht hervor, dass 5 Parlamentarier Markus Wolf zu Diensten waren. Die anderen 11, darunter Willy Brandt, Herbert Wehner und Franz Josef Strauß, hingegen waren ohne ihr Wissen „abgeschöpft“ worden.

Ende Juni dieses Jahres hatte die Wochenzeitung Die Zeit, sonst nicht gerade bekannt für Enthüllungsjournalismus, in einem Artikel suggeriert: „Nicht weniger als 43 Abgeordnete standen damals [1969–72, C.S.] offenbar in Kontakt mit der Stasi.“ Und unter der Frage „Wer spielte falsch“ hieß es: „In Willy Brandts SPD-Fraktion soll die Stasi über 30 Kontakte verfügt haben.“ Von dieser Suggestion aus war es nicht weit bis zu der griffigen Formel, die Staatssicherheit der DDR sei im Bundestag „in Fraktionsstärke vertreten gewesen“, eine Behauptung, die von nimmermüden Stasi-Jägern umgehend kolportiert wurde.

Der Hintergrund solcher Behauptungen war die Unkenntnis über die Bedeutung des Kürzels IM-A. Nach der HVA-Systematik fielen unter diese Bezeichnung auch „abgeschöpfte“ Personen. Von dieser Verwendung des Begriffs ist der IM-Begriff im Rahmen operativer Vorgänge zu trennen. Schließlich muss noch die Definition des IM im Stasi-Unterlagengesetz, die auf wissentlicher Zuarbeit des IM basiert, von den beiden in sich differierenden Stasi-Begriffen geschieden werden.

Vielfachen Behauptungen zum Trotz hat die „Rosenholz“ benannte Kartei der HVA, die sich in der Wendezeit die Amerikaner unter den Nagel rissen und die sie erst 2003 als CD-ROM-Kopien an die Deutschen zurückgaben, keinerlei umstürzende Novitäten erbracht. Schon vor der Rückgabe war die Kartei bei strafrechtlichen Ermittlungsverfahren von deutschen Behörden mehrfach konsultiert worden – meist ohne großes Ergebnis.

Dass die Rosenholz-Datei nach ihrer Überführung in die Birthler-Behörde nicht umgehend veröffentlicht wurde, hat seine Ursache in der eben genannten, zu Trugschlüssen führenden HVA-Systematik. Aber auch im Zustand der CD-ROM-Kopien zum Zeitpunkt ihrer Übergabe, wo neben dem Fehlbestand qua CIA-Zugriff und dem schlechten Zustand der Kopien auch Akten-Manipulationen nicht auszuschließen sind.

Der zweite Grund für die Frustration der Sensationshungrigen besteht darin, dass die Seifenblase „Birthler unterdrückt Forschungsergebnisse und maßregelt um Aufklärung bemühte Mitarbeiter“ in dieser Woche geplatzt ist. Der angeblich aus politischen Gründen zurückgehaltene Forschungsbericht zur Rosenholz-Kartei wird gegenwärtig umgearbeitet – nach sachlichen Einwänden aus anderen Abteilungen.

Die Forschungsgruppe selbst wurde nicht willkürlich, sondern nach getaner Arbeit aufgelöst. Ihre Aufgabe bestand nicht in einer umfassenden historischen Arbeit, sondern in der Quellenkritik des Aktenbestandes der Rosenholz-Kartei. Schließlich hatte die „Umsetzung“ des Mitarbeiters Müller-Enbergs auf die Aufgabe, ein Stasi-Handbuch fertigzustellen, keinen politischen, sondern einen simplen praktischen Grund: Die Veröffentlichung des Handbuchs unter der Autorschaft Müller-Enbergs ist überfällig. Und in diesem Handbuch wird Substanzielleres über die „Westarbeit“ der HVA zu erfahren sein als aus der Rosenholz-Kartei.