Im Supermarkt der Identitäten

Seit 50 Jahren schützen die Bonn-Kopenhagener Erklärungen die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein. Doch die ist mittlerweile nicht mehr leicht auszumachen: Däne ist, wer sich als Däne fühlt. Die junge Generation meidet die traditionellen Vereine – und strebt nach der Schule nach Dänemark

„Ihr wisst selber, was es bedeutet, wenn man zu denen gehört, die ausgeschlossen sind“

aus Flensburg MATHIAS BECKER

Sönke Weise spricht perfekt Dänisch. Aber wenn der 22-jährige Flensburger in Kopenhagen zwei „Hot-Dogs“ bestellt, ahnt der Würstchenverkäufer, dass sein Kunde kein Landsmann ist. Der Plural von „Hot-Dog“ ist in Dänemark ebenfalls „Hot-Dog“. Das „s“ am Ende verrät den hungrigen Ausländer. Trotzdem: Weise fühlt sich als Däne. Und gleichzeitig als Deutscher. „Ich bin Südschleswiger“, sagt der angehende Theologiestudent. Er zählt sich zur dänischen Minderheit im Norden Schleswig-Holsteins.

Schätzungen zufolge gehören 50.000 Norddeutsche dieser Volksgruppe an. „Diese Zahl kann man aber beliebig nach oben oder nach unten schrauben“, sagt Jesper Nielsen von der dänischen Zentralbibliothek in Flensburg. Das Zahlenspiel ist möglich, weil niemand gezwungen ist, sein „Dänisch-Sein“ durch irgendeine Mitgliedschaft zu dokumentieren. Wer sich dänisch fühlt, der ist dänisch. So kommt die absurde Situation zustande, dass dänische Vereine über immer weniger Aktive klagen, Theatervorstellungen und Schulen der Minderheit aber stets gut besucht sind. Jeder pickt sich soviel „Dänisch-Sein“ heraus, wie er will. „Supermarkt-Mentalität“ nennen das einige.

„Die Identitäten der Südschleswiger sind wie eine Zwiebel aufgebaut“, erklärt Bernd Engelbrecht vom Südschleswigschen Verein (SSF): Den Kern der Frucht stellt, wer sich eher als ‚Däne‘ betrachtet. Drumherum schichten sich weichere Auslegungen. Zum Beispiel bei allen Kindern deutsch-dänischer Eltern: Für sie käme die Entscheidung für eine Kultur der Entscheidung für ein Elternteil gleich. Der Ausweg aus dem Dilemma: die regionale Identität. Zu Hause spricht Sönke Weise Deutsch, da sein Vater kein Dänisch kann. In der Duborg-Schule, dem dänischen Gymnasium in Flensburg, wurde er auf Dänisch unterrichtet. Studieren möchte er in Dänemark, dann aber unbedingt zurückkommen in seine Heimat Südschleswig.

Zwei Kulturen in Personalunion – kann das nicht anderen Grenzkonflikten als Vorbild dienen? Leider hinkt jeder Vergleich mit anderen Minderheiten, denn Südschleswig hat gewissermaßen Biotop-Charakter: Es gibt den Südschleswigschen Wählerverband (SSW) und den SSF, dem 25 Kultur- und Sportvereine angeschlossen sind. Es gibt dänische Gemeinden, die dänische Tageszeitung „Flensborg Avis“, dänische Schulen und eine dänische Bibliothek. Diskriminierung sieht anders aus. „Nationale Konflikte können dort abgewendet werden, wo reichlich Haushaltsmittel vorhanden sind“, sagt Bibliothekar Nielsen.

Doch das friedliche Miteinander in der Region war nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Ältere Semester wie Carsten Petersen wissen das. Petersen leitet einen Spirituosenhandel in der Nordstraße. Sein Großvater hat den Laden 1862 eröffnet. Lakritze und Liköre stapeln sich bis unter die Ladendecke. Der braungebrannte 62-Jährige erinnert sich noch gut an die Schikanen von früher: „Auf dem Schulweg wurden wir von deutschen Schülern oft verprügelt oder bespuckt“, erzählt er. „Um uns wehren zu können, gingen wir nur noch in Gruppen los.“ So etwas schweißt zusammen. Hinzu kam die Erziehung: Petersens Eltern und Großeltern hatten die schmerzhafte Geschichte des Grenzgebietes noch selbst erlebt. Ergo brachte man den Kindern Distanz zur Mehrheit bei. Das war auch nach 1955 so, als die Bonn-Kopenhagener Erklärungen den Schutz der Minderheit auf dem Papier festlegten.

Gleichzeitig setzte ein kollektiver Erinnerungsprozess bei jenen ein, die ihr „Dänisch-Sein“ im Hitlerdeutschland abgestreift hatten: Zwischen 1946 und 1949 wuchs der SSF von 12.000 auf 75.000 Mitglieder. Heute ist man wieder bei 14.000 Mitgliedern angekommen. Es fehlt der Nachwuchs, den SSF-Sprecher Engelbrecht „vor dem Computer“, vermutet. Ist das Dänische in Südschleswig auf dem Rückzug? Die Zahlen von Bibliothekar Nielsen sprechen eine andere Sprache: 650.000 dänischsprachige Medien besitzt die Dänische Zentralbibliothek; 637.000 wurden im letzten Jahr ausgeliehen. Nielsens These: Die Nachfrage ist da, das Angebot stimmt. Noch.

„Das könnte sich ändern“ gibt Olaf Runz vom Dänischen Schulverein zu. Er ist verantwortlich für 5.700 Schüler und 1.900 Kindergartenkinder, deren Eltern sich für das parallele System entschieden haben. Diese Zahlen sind einigermaßen stabil, doch seit etwa zehn Jahren hat das Land Schleswig-Holstein seine Zahlungen für die dänischen Schulen von denen für das öffentliche Schulsystem entkoppelt: Sechs Millionen Euro habe man seither zu wenig bekommen, so Runz. Der Verein reagiert mit Schließungen und Zusammenlegungen. Was dennoch fehlt, zahlt der dänische Staat. „Die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung der beiden Schulsysteme wird unterlaufen“, schimpft Runz.

Dabei ist das parallele Schulsystem bei Eltern beliebt. Auch Familien, in denen kein Dänisch gesprochen wird, schicken ihre Kinder auf dänische Schulen. Denn deren Chancen auf dem dänischen Arbeitsmarkt sind gut. „Mit dem Schulbesuch ist es aber nicht getan“, meint Runz. Die Eltern sollten auch dänisch lernen, so seine Forderung. Und sie müssten bereit sein, einem anderen Kulturkreis beizutreten.

Was „Kulturkreis“ bedeutet, liegt dann aber wieder in der Hand derer, die ihn formen. Das „Aktivitetshuset“ ist ein Ort, wo das passiert. Hier, im dänischen Jugend und Kulturzentrum treffen sich vor allem die jüngeren Südschleswiger. Ein Fotolabor, eine Videowerkstatt, eine Druckerei und ein Proberaum für Bands stehen ihnen zur Verfügung. „Ich komme eigentlich nur zum Chatten“, sagt Jennifer Hoff. Über das Internet hält die Dreizehnjährige Kontakt zu deutschen und dänischen Freunden, vor allem aber zu ihrer Pflegefamilie in Dänemark. Wenn sie ihren Realschulabschluss hat, will sie wieder dorthin.

Mädchen wie Jennifer zeigen, dass das Interesse der jungen Südschleswiger am nördlicheren ihrer Heimatländer längst nicht versiegt ist. Südschleswiger zu sein ist für sie zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Das zeigt auch die Abschlussrede des Abiturjahrgangs 2004 am Duborg-Gymnasium: Zum ersten Mal seit Gründung des Hauses setzten sich die Schüler über die Anweisung hinweg, die Rede auf Dänisch zu halten.

Auf Deutsch dankten sie den deutschsprachigen Eltern für die Möglichkeit, ihren Kindern die Zweisprachigkeit ermöglicht zu haben. Und stellten gleichzeitig ihr Bewusstsein für die Probleme von Minderheiten unter Beweis: „Ihr wisst selber, was es bedeutet, wenn man zu denen gehört, die ausgeschlossen sind.“ Worte an die Minderheit in der Minderheit. Gleichgültig ließ das weder die eine noch die andere Seite: Nach dem Tabubruch druckte die Tageszeitung „Flensborg Avis“ eine Flut an begeisterten bis zürnenden Leserbriefen.