Ein Leben in Flandern

Meine Großmutter, meine belgische Bonne Maman, fremd ist sie mir und nah. Auch nach 100 Jahren ist sie schön – vielleicht wieder schön

Bonne Mamans Onkel Arsène war ein Kunsträuber. Aber darauf spricht man sie heute besser nicht an

VON PHILIPP GESSLER

Heute feiert Bonne Maman ihren 100. Geburtstag. Meine belgische Großmutter sitzt auf einem schweren Gartenstuhl aus verblichenem Holz am Fluss Leie, der sich durch Flandern schlängelt. Um Bonne Maman herum ihre bald hundertköpfige Familie: Kinder, Enkel, Urenkel, der älteste ist zweiundzwanzig Jahre alt, hat seine Freundin dabei und könnte selbst schon Vater sein. Hinter Bonne Maman die sanfte flämische Landschaft. Wiesen, Kühe, ein paar alte Bäume, ein Kirchturm am Horizont. Wie gemalt sitzt meine Großmutter da in ihrem Sommerkostüm, weiß-bräunlich, geschmackvoll wie immer, zeitlos. Eine alte Dame, der Wind spielt mit ihren weißen Haaren. Meine Bonne Maman, fremd ist sie mir und nah. Auch nach hundert Jahren ist sie schön, vielleicht wieder schön.

Ihre Schönheit haben immer alle gerühmt, die sie schon länger kennen. Meine Eltern haben zu Hause ein Foto von ihr als junge Frau, ein sehr gutes Bild, natürlich in Schwarzweiß, geschossen von einem professionellen Fotografen: Tatsächlich eine sehr schöne, feine Frau. Daneben gibt es es heute, an ihrem Festtag, auf einem Tisch im Wintergarten des Restaurants, wo wir feiern, dieses andere Foto von ihr. Lucy, so ihr Vorname, als wohl zwölfjähriges Mädchen. Während des Ersten Weltkriegs wurde es aufgenommen in Dendermonde, nicht weit von hier. Es ist ein Kartengruß an die Kriegsgefangenen, und da sieht man die andere Bonne Maman, leicht ironisch, fast frech grinsend, so gar nicht passend für den Anlass. Hübsch ist sie, sicher, fast ein wenig sexy – seltsam, dieser Eindruck.

Dabei muss da einiges gewesen sein bei sieben Kindern. Es gibt diese Familiengeschichte: Mein Großvater ging, als er um ihre Hand anhalten wollte, schick angezogen zu seinem Schwiegervater in spe. Der, ein Uhrmacher und Juwelier, ließ seine drei Töchter kommen und fragte: „Welche wollen Sie heiraten?“ – eine ziemliche Macho-Geschichte, aber sie passt in dieses flandrisch-katholische Milieu.

Die Liebe zwischen Bonne Maman und ihrem Mann war innig, das sagen alle, und selbst damals glaubte ich dies zu sehen. Diese Liebe war durchaus physisch – nicht unbedingt selbstverständlich bei dieser frommen Frau, die, so lange es noch ging, bei der Übertragung des Papstsegens Urbi et Orbi vom Petersplatz in Rom vor dem Fernseher niederkniete. Mein Großvater konnte nichts mit dem Glauben anfangen – aber das spielte bei ihrer Liebe keine Rolle. Meine Mutter hat ihre Mutter, Jahre nach dem Tod meines Großvaters, einmal gefragt, was sie an ihm besonders vermisse: „Seine Beine an meinen im Bett“, war ihre Antwort.

Fast alle Familienangehörigen hatten erwartet, dass Bonne Maman ihn nicht lange überleben würde, als ihr Mann 1983 an Lungenkrebs starb – er war Kettenraucher. Nun ist fast ein Vierteljahrhundert vergangen. Mein Großvater war ein Unternehmer, der kleinere Holzmöbel, Kinderspielzeug und Kinderwagen produzierte, ein Patriarch wie aus dem Bilderbuch. Er hatte den Familienbetrieb von seinem Vater übernommen. Die Fabrik lief lange prächtig, Bonne Maman hatte ein gutes Leben in einer Villa mit Hausangestellten – und selbst als die Firma Anfang der Siebzigerjahre verkauft werden musste, war die bescheidenere Bleibe immer noch ein Herrenhaus. Heute gehört es zu dem Restaurant, wo wir ihren 100. Geburtstag feiern.

Finanzielle Sorgen musste sich Bonne Maman ihr Leben lang nie machen – selbst heute, da sie allein in einer großen Wohnung voller Ölgemälde und Erinnerungen über dem Blumenmarkt, dem Kouter, in Gent wohnt, weiß niemand so recht, woher sie eigentlich das Geld für die Miete nimmt. Das Geld war selbst in Kriegszeiten kein Problem, als meine Großeltern versuchten, mit einer Art Stretchlimousine, in die alle sieben Kinder passten, vor den Deutschen über die Kanalküste nach England zu fliehen. Als sie nach Ostende kamen, war die deutschen Truppen schon da und mähten, so erzählt meine Mutter eine ihrer frühen Erinnerungen, mit einem Maschinengewehr alle Leute nieder, die im Hafen noch schnell auf das Schiff rennen wollten – die Familie meiner Großmutter kehrte um.

Bonne Maman, ihr Mann und ihre Kinder litten nicht unbedingt unter der deutschen Besatzung. Zu Essen war, auch wegen eines geheimen Vorratskellers im Garten, immer genug da. Aber die psychische Belastung war stark.

Bonne Maman erzählte einmal die Geschichte, wie eines Tages ein deutscher Besatzungsoffizier zu meinem Großvater in die Firma kam, um von ihm eine Liste von Arbeitern zu erhalten, die in Deutschland als Zwangsarbeiter schuften sollten. Mein Großvater weigerte sich, Namen zu nennen. Daraufhin ließ sich der Offizier das Personalbuch geben und stieß seinen Dolch hinein, um die Aufgespießten dafür auszuwählen – jetzt kooperierte mein Großvater. Als er nach Hause kam, habe er geweint, erzählte meine Bonne Maman. Es sei das einzige Mal in mehr als fünfzig Jahren Ehe gewesen. Bonne Maman weinte, als unmittelbar nach dem Krieg wieder Schüsse zu hören waren. „Kollaborateure“ wurden gejagt.

Die Ironie der Familiengeschichte wollte es, dass zwei von Bonne Mamans Töchtern ausgerechnet Deutsche heirateten – worüber ihre Eltern wenig entzückt waren. Die eine Tochter war meine Tante Bike, eine strahlende Schönheit auch sie. Sie heiratete einen preußischen Junker, „Väterli“ genannt. Er war schon im Ersten Weltkrieg Offizier gewesen, fast vierzig Jahre älter als seine Frau – und ein paar Jahre älter auch als sein Schwiegervater. In späten Jahren tranken die beiden immer Whiskey zusammen, knapp eine Flasche pro Abend. Auch meine Mutter heiratete einen Deutschen, meinen Vater. Aber auch damit fand sich Bonne Maman schnell ab.

Bonne Mamans Mann ist lange tot. Was ihr an ihm fehlt? – „Seine Beine an meinen im Bett“

Wie in jeder großen Familie gibt es viele solcher Geschichten, und heute, an ihrem 100. Geburtstag, kommen einige wieder hoch. Mein Vater zeigt auf dem Fest mit Hilfe eines Beamers uralte Fotos, die er gescannt hat. An einer Stelle ruft mein wie immer so vorlauter wie witziger Cousin Tanguy „Oncle Arsène“ in die Runde – ein schwieriger Name. Denn Bonne Mamans geliebter Onkel Arsène, mein Urgroßonkel, der sie als Kind trotz Typhusgefahr bei sich aufnahm, hat 1934 zwei Tafeln eines spätmittelalterlichen Meisterwerks gestohlen: Sie stammen vom so genannten Genter Altar in der Sankt-Baafskathedrale: van Eycks „Das Lamm Gottes“. Es war einer der spektakulärsten Kunstraube des 20. Jahrhunderts.

Bis zu seinem Tode fiel niemals ein Verdacht auf Oncle Arsène, der sich fromm gab und Küster war. Eine Tafel wurde der Polizei wieder zugespielt, die zweite Tafel wurde nie gefunden. Aber Oncle Arsène übergab seinem Beichtvater auf dem Sterbebett einen Schlüssel – mit den Worten, dieser führe zur zweiten Tafel. Das Schloss dazu blieb unauffindbar. Bonne Mamans Schwester Mimi, meine Großtante, soll eines Tages jedoch von Oncle Arsène geerbte Möbel zertrümmert haben – in der Hoffnung, darin vielleicht in einem doppelten Boden die geraubte Tafel zu finden. Vergeblich. Bonne Maman spricht man besser nicht auf diese Geschichte an. Gerade heute nicht.

In einer ruhigen Minute schnappe ich mir meinen Sohn Elia und gehe zu Bonne Maman. Manchmal ist es seltsam still um sie, wirkt sie vergessen, als drehe sich das Fest nur am Rande um sie. Elia ist anderthalb Jahre alt und ihr jüngster Urenkel. Sie sieht ihn das erste Mal. Bonne Maman hat sich eine Liste gemacht, um die Namen ihrer über dreißig Urenkel nicht zu vergessen. Drei ihrer sieben Kinder sind schon gestorben, ihr ältester Sohn ist Ende siebzig.

Aber Bonne Maman lebt. Sie hört fast nichts mehr. Ihr Hörgerät lässt sie am liebsten aus. Bonne Maman ist müde, das Fest schafft sie. Sie streichelt Elia über den Kopf. Ihre weiche, warme, von Gicht leicht gekrümmte Hand nimmt meine. Mir schießen Tränen in die Augen. Bonne Maman lächelt nur.