Cool wie Alaska

Der Tag, an dem Ben Webster vergaß, in Hildesheim aus dem Zug zu steigen

Wenn er spielte, wurde den härtesten Typen warm und den sanftesten Ladys ganz anders

Der Tag, an dem Ben Webster vergaß, in Hildesheim aus dem Zug zu steigen, war ein Montag im August. Für mich war es der Tag, an dem ich den größten Tenorsaxofonisten der Welt hören wollte. Für Ben Webster war es wahrscheinlich ein Tag wie jeder andere. Seit er denken konnte, stieg Webster morgens irgendwo in einen Zug oder in einen Autobus und abends stieg er irgendwo wieder aus. Als man John Dillinger erschoss, zog er mit Cab Calloways Band durch das staubige Texas. Von Pearl Harbor erzählten sie ihm im Cotton Club, während eines Gigs mit Duke Ellington. Auf das Kriegsende trank er in St. Louis, Missouri, mit Billie Holiday. Seinen fünfzigsten Geburtstag feierte er dreimal, in Paris, Kopenhagen und Genua. Oder war es Offenbach? Über Kleinigkeiten hatte sich Webster nie einen Kopf gemacht.

Sein Leben glich den Balladen, die er spielte. In einem kargen Hotelzimmer blies er sein Horn warm, bestellte Pizza und eine Flasche Bourbon. Später stieg er in ein Taxi und fuhr durch die Nacht in den Club und erfand drei Sets lang so wunderbare Chorusse, dass den härtesten Typen warm und den sanftesten Ladys ganz anders wurde – und Schmierlappen wie Kenny G. vor Scham die Zunge abfallen müsste. Dann nahm er noch ein paar Drinks und ging ins Bett; wenn es gut lief, mit einer schönen Frau. Am nächsten Tag wartete eine andere Stadt, der nächste Club und wenn es wieder gut laufen sollte, auch eine andere Frau.

Ich weiß noch, dass es an dem Tag, an dem Ben Webster vergaß, in Hildesheim aus dem Zug zu steigen, geregnet hat. Mein Freund Achim und ich standen auf der Brücke über dem Flüsschen Innerste und sahen zu, wie große schwere Tropfen in die braune Brühe klatschten, die schaumschlagend zwischen den Betonpfeilern hindurchschoss. Dann gingen wir am Ufer entlang hinüber zur „Bischofsmühle“, wo montags die Jazzer auftraten. Wir waren wie fast immer viel zu früh dran. Der Laden war so gut wie leer. Jeder legte ein Fünfmarkstück auf den Resopaltisch neben die grüne Kassenbox. Das war damals der Marktwert für Ben Webster, den größten Tenoristen der Welt.

Wir setzten uns an die Theke und bestellten Bier. Hinter dem Tresen hing ein Foto von Elvin Jones. Der Drummer des John-Coltrane-Quartetts trug ein weißes T-Shirt und grinste über beide Backen. Wahrscheinlich, weil er nicht wusste, was auf seinem T-Shirt geschrieben stand. Ein Gönner des Jazzclubs, im Hauptberuf Betreiber eines Geschäftes für Malereibedarf, hatte es bedrucken lassen. Die Inschrift lautete: „Mein Pinsel ist der größte“.

Wir tranken unser Bier und warteten. Langsam füllte sich der Club, und wir tranken weitere Biere. Die mit dem Bandbus angereisten Sidemen des Meisters, zwei fröhliche Dänen und ein stiller schwarzer Mann, langten ebenfalls kräftig zu. Denn wie gesagt, an diesem Tag vergaß Ben Webster, in Hildesheim aus dem Zug zu steigen.

Irgendwann ging uns das Geld für weitere Bestellungen aus. Der Mann hinter dem Tresen, der ein sehr freundlicher Mann war, spendierte uns eine Runde, „weil ihr so traurig guckt“. Ich fragte ihn, wann denn mit dem Auftritt von Ben Webster zu rechnen sei. „Keine Ahnung, Jungs“, antwortete er und stellte uns noch zwei Pils vor die Nase. Wir bekamen allmählich ziemliche Schlagseite.

Irgendwann klingelte das Telefon. Der freundliche Mann nahm ab, brummte „Ach du grüne Neune“ und „Mach ich“. Dann schritt er auf die Bühne, griff sich ein Mikrofon und sprach den Satz hinein, dem diese Geschichte ihren Titel verdankt: „Wie ich eben höre, hat Ben Webster vergessen, in Hildesheim aus dem Zug zu steigen.“

Der Anruf kam aus Göttingen. Von der Bahnhofsmission. Dort, erzählte der Mann, hatte ein Schaffner den stark alkoholisierten Saxofonisten abgeliefert, weil er auf die Information, dies sei keineswegs der Bahnhof von Hildesheim – da wäre man schon gewesen – nicht nur unwirsch reagiert, sondern auch die Zahlung eines Zuschlages rundheraus verweigert hatte. Und zwar mit den mehrmals und bedrohlich laut wiederholten Worten: „You take that piss out off me.“

Am Ende wurde aber noch alles gut. Der solvente Pinselfritze spendierte ein Taxi und organisierte den Rücktransport Websters. Zweieinhalb Stunden und einige weitere Gratisbiere später stand der wunderbarste Tenorspieler der Welt tatsächlich in der „Bischofsmühle“ auf der Bühne. Ich weiß noch, dass der Mann, den sie zu Hause „The Brute“ nannten, was man mit „Der Büffel“ übersetzen könnte, erstaunlich klein und zierlich wirkte und aussah, als hätte er einen Gig in Alaska. Unter dem Parka trug er zwei Pullover, und auf seinem Kopf saß eine riesige rote Pudelmütze. Viel mehr bekam ich nicht mehr mit. Noch vor dem Ende des Openers war ich randvoll wie eine Haubitze eingenickt. Ben Webster hatte mehr Stehvermögen. Es soll ein legendäres Konzert gewesen sein. MICHAEL QUASTHOFF