„Es kann gleich wieder losgehen“

Haifa im Norden Israels erlebt einen unangekündigten Feiertag. Die Menschen genießen vorsichtig einen Tag ohne Kriegslärm in einer fast leeren Stadt

HAIFA taz ■ Trotzig weht die blau-weiße Israel-Fahne auf einem verkohlten Stückchen Erde an der südlichen Einfahrt von Haifa. Eine der letzten Katjuscha-Raketen ist hier zwischen zwei Wohnblöcken explodiert. Die beiden Häuser sind, von Brandspuren abgesehen, unversehrt geblieben.

Wäre es nicht so heiß, dann könnte man meinen, die Stadt erwache langsam aus einem Winterschlaf. „Ich bin seit Wochen zum ersten Mal ohne Angst unterwegs“, sagt die Philosophie-Doktorantin Smadar Winter. „Im Kopf habe ich verstanden, dass der Krieg jetzt vorbei ist.“ Trotzdem werde sie permanent von der Unsicherheit begleitet, dass „es jede Minute wieder losgehen kann“. Um 7 Uhr gingen gestern noch einmal die Sirenen los. Eine Stunde später trat das Waffenstillstandsabkommen in Kraft.

Smadar ist wegen ihrer Rückenschmerzen auf dem Weg zur Physiotherapie. In der ambulanten Behandlungsstation ist noch wenig Betrieb. Pausenlos hatten die Sirenen am Vorabend Alarm gegeben. „Die Leute sind noch immer traumatisiert“, meint eine Schwester. „Es kommen nur die zu uns, die dringend eine Behandlung brauchen.“ Gleich zu Beginn des Krieges schlug nur wenige Meter von der Station entfernt eine Rakete ein. Seitdem ist die Chemotherapie in den Keller verbannt.

In der Haupteinkaufsstraße Hadar ist schon wieder Betrieb. „Lass die Apfelsine liegen, du schmeißt sie doch wieder nur weg“, ruft der Verkäufer von frischen Obstsäften einem Bettler zu, der die Frucht beschämt wieder an ihren Platz zurücklegt. „Kein Vergleich zu gestern“, sagt der Saftverkäufer und schält eine Karotte nach der anderen. Er deutet auf eine Straßenkreuzung wenige Meter entfernt. „Das sind wenigstens zehn Leute. Gestern war hier niemand.“ Trotzdem sei das Geschäft so mies wie in Kriegszeiten. „Die Leute gucken, ohne zu kaufen.“

Ein paar Meter weiter sitzt Iris Satag auf einem Plastikstuhl an der Tür zu ihrer Boutique. Aus dem Kofferradio schrillt hebräische Popmusik. Seit fünf Stunden ist der Laden, der vorwiegend Billigware führt, wieder offen. Kundschaft hatte Iris aber noch keine. „Wie an Jom Kippur“, schimpft sie, dem höchsten jüdischen Feiertag.

Den Krieg hat Iris zusammen mit ihrem Mann und drei Kindern, von denen das jüngste gerade ein Jahr alt ist, zu Hause verbracht. „Wenn es Alarm gab, mussten wir zu zweit sein, um die Kinder schnell genug ins Sicherheitszimmer zu bringen.“ Das Ehepaar hat noch einen zweiten Laden mit Massageölen und Kräuterpräparaten für „alternative Medizin“, der auch während des Krieges geschlossen blieb. „Wir haben mindestens 100.000 Schekel (knapp 20.000 Euro) Verdienstausfall“, sagt Iris, die nicht damit rechnet, dass ihr der israelische Staat den Schaden ersetzt.

Trotzdem habe sich der Krieg gelohnt, um Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah eine Warnung zu verpassen. „Er muss wissen, dass er sich nicht länger wie ein Terrorist aufführen darf“, sagt die energische Geschäftsfrau. Obwohl vor allem ihr ältester Sohn und das Baby während des Sirenenalarms Angst hatten, habe sie ans Weggehen nie gedacht. „Starke Menschen laufen nicht weg.“

Dem Wasserverbrauch nach zu urteilen, hat laut den Behörden rund ein Drittel der Bevölkerung Haifas die Stadt verlassen. Die meisten sind vorrübergehend zu Verwandten oder Freunden in den sicheren Süden gezogen. Viele haben auch bei ganz fremden Leuten Unterschlupf gefunden, die den Flüchtlingen ihre Gästezimmer zur Verfügung stellten. Allerdings nur den jüdischen Flüchtlingen.

„Wo hätte ich schon hingegen sollen“, fragt der arabische Christ Jarmas Srouji, der in Haifa einen kleinen Elektronikladen hat. Noch wenige Tage vor Kriegsende hatte Hassan Nasrallah die arabische Bevölkerung im Norden Israels zur Flucht aufgefordert. „Wer gehen wollte, war längst weg“, meint Jarmas. Noch vor einer Woche waren drei arabische Israelis in der Stadt von Raketen getötet worden.

„Wir brauchten Nasrallahs Warnung nicht.“ Im Gegenteil, der Appell des Hisbollah-Chefs habe die flüchtenden Araber in Verruf gebracht. „Sie wurden von den Juden schräg angesehen, dabei sind sie doch selbst weggegangen.“ Jarmas glaubt, dass der Krieg vermeidbar gewesen wäre, hätte man „die offene Wunde Libanon nur früher behandelt“, etwa über Verhandlungen mit Syrien. Außerdem hätte Israel, anstatt gleich anzugreifen, versuchen sollen, „durch einen Boykott oder ein Embargo die beiden entführten Soldaten freizubekommen“. Der junge Christ regt sich auf: „So viel Zerstörung macht einfach keinen Sinn.“

SUSANNE KNAUL