Scherbius lebt

Die ENIGMA (griechisch ainigma, „Rätsel“) ist eine Rotor-Schlüsselmaschine, die im Zweiten Weltkrieg zur Verschlüsselung des Nachrichtenverkehrs des deutschen Militärs verwendet wurde. Als Erfinder der ENIGMA gilt der promovierte deutsche Elektroingenieur Arthur Scherbius (1878–1929), dessen erstes Patent hierzu vom 23. Februar 1918 stammt (siehe auch: ENIGMA-Patente). Zur Fertigung der Maschine wurde am 9. Juli 1923 die Chiffriermaschinen-Aktiengesellschaft in Berlin (W 35, Steglitzer Str. 2) gegründet.“ (Wikipedia)

Die zweite Berliner ENIGMA ging am 17. April 1979 in Berlin (West) an den Start. Sie wurde eingesetzt, um journalistische, gruppendynamische und politische Sachverhalte in Zahlen und Dokumente zu verschlüsseln, deren Verständnis und Interpretation einem kleinen Kreis nicht promovierter deutscher Mitarbeiter der „tageszeitung“ obliegt. Unter dem Codenamen Karl-Heinz („Kalle“) Ruch arbeitet sie seit ihrem ersten Einsatz fehlerfrei, zuverlässig und mit bescheidenem Wartungsaufwand. Sie produziert Tabellen und Jahresabschlüsse sowie Kreditrahmenverträge, stellte in der Vergangenheit auch ohne Reibungsverluste zwischen unterschiedlichen Währungen Abgleichungen her und initiiert in unregelmäßigen Abständen alternative Entscheidungssituationen durch die eineindeutige Präsentation von Daten. Im paradoxen Gegensatz zur soziologischen Theorie Luhmanns handelt es sich hier um ein System ohne Außenwelt, das diese allerdings zyklisch in Erschütterung bringt, bis ein neuer stabiler Zustand erreicht ist.

Wie bei Verschlüsselungsmaschinen unvermeidlich, ist für Nichteingeweihte unerkennbar, ob die ENIGMA mehr Probleme löst, als sie schafft. Notwendigkeit und Unersetzlichkeit sind Grundeigenschaften ihrer Existenz, vergleichbar dem Geheimdienst eines demokratischen Staates, dessen Vorhandensein seine Notwendigkeit belegt und dessen Abschaffung Probleme nach sich ziehen würde, die wiederum nur vom Geheimdienst selber einschätzbar sind. Eine Welt ohne ENIGMA ist daher denkbar, aber nicht herstellbar, vergleichbar der Einsicht Loriots über die Rasse der Molosser: „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos.“

Lieber Kalle,

ich verdanke Dir viele Stunden des Staunens, was ja an und für sich ein erfreulicher geistiger Zustand ist, da er die Langeweile, die aus Gewissheit entsteht, zuverlässig zunichte macht. Manchmal würde ich gern wissen, ob Du auch hin und wieder über die merkwürdigen Menschen um Dich herum staunst. Dann wieder denke ich mir, dass vielleicht gar nicht Du das Rätsel bist, sondern nur Dein Dasein im taz-Kollektiv. In einem Ministerium, z. B. für Wirtschaft, in einer Steuerbehörde, in einem juristischen Gremium wäre Deine Weise, in der Welt zu sein und sie bei ihrem Scheitern zu begleiten, vermutlich gar nicht exotisch, sondern beispielsweise die Schreiberin dieser Zeilen - die Dir von Herzen gratuliert und hofft, dass ENIGMA noch viele Jahre das unerschütterliche Zentrum einer Zeitung bildet, deren vornehmste Eigenschaft die Erschütterbarkeit ihrer JournalistInnen ist. Elke Schmitter

■ Elke Schmitter, Chefredaktion 1992 bis 1994