Respekt, Kalle!

An einem Samstag im Frühjahr 1978 versammelten wir uns im Seminar-Raum des Theaterwissenschaftlichen Instituts der Freien Universität in Berlin-Dahlem. Wir waren gut zwanzig Linksradikale, wir gründeten eine Initiative für eine linke Tageszeitung und begannen mit einer Vorstellungsrunde. Die Reihe kam an einen Mann mit langen blonden Haaren und Brille, der an der Längsseite des Tisches in der Mitte saß. „Ich heiße Kalle und studiere Volkswirtschaft“, sagte er mit einer leicht brüchigen Stimme: „Ich interessiere mich nicht so für die Redaktion, sondern für die finanzielle Seite des Projekts.“

Damit war Kalle ein krasser Außenseiter in der Runde, denn alle anderen wollten mit der Zeitung soziale Bewegungen voranbringen, Debatten innerhalb der Linken initiieren, wenn nicht gleich die Revolution herbeischreiben. Wir kannten das Diktum von Karl Marx „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“, doch wir waren auf die Ideen fixiert und ignorierten die ökonomische Basis. Kalle nicht. Damit hatte er eine entscheidende Lücke entdeckt und er schickte sich bald an, sie zu füllen.

Mehr als 35 Jahre lang ist Kalle nun Geschäftsführer der taz: Das ist ein Ausmaß an Ausdauer und Kontinuität, das ebenswo bewundernswert wie furchteinflößend ist. Er hat alle in der taz überlebt. Die Redakteure und Chefredakteurinnen kommen und gehen, Kalle bleibt bestehen. Er hat nicht zuletzt so lange durchgehalten, weil er sich nicht von der taz hat völlig auffressen lassen. Geholfen haben ihm dabei auch seine drei Kinder, die er ordentlich großgezogen hat.

Kalle macht durchaus den Eindruck, als ob er über die Jahrzehnte eine milde, insgeheime Verachtung für Journalisten entwickelt hätte – zu viele Narzissten und Mietgehirne hat er in der Redaktion kommen und gehen sehen. Aber er macht auch bei einer ganzen Reihe eine Ausnahme.

Einer, der die Nerven hatte, über Jahre mit einem Bein im Knast zu stehen, wegen Konkursverschleppung, braucht eine stoische Natur. Zu der gehört eine gewisse Undurchschaubarkeit und Unnahbarkeit. Der Tiefpunkt meiner persönlichen Beziehung mit Kalle war der, als er mir im April 1994 den Beschluss meiner Abberufung als Chefredakteur schnell mal an der Straßenecke in die Hand drücken wollte. Er ließ sich dann doch auf eine Tasse Tee in meine zwei Häuser weiter gelegene Wohnung hochbitten. Ein Ausbund an Charme war und ist Kalle nicht gerade.

Aber in der insgesamt ziemlich großartigen Geschichte der taz sind solche Erlebnisse zu vernachlässigende Petitessen. Viel wichtiger ist: Bei allen großen, richtungsweisenden Entscheidungen lag Kalle richtig: Zunächst beim Start des Blattes im Subventionsparadies West-Berlin statt in Frankfurt am Main; später, von Christian Ströbele und Johnny Eisenberg diskret beraten, beim Kauf des taz-Sitzes in der Kochstraße – und jetzt wieder beim Bauprojekt in der Friedrichstraße; vor allem aber bei der Gründung der Genossenschaft und später auch der taz Panter Stiftung.

Als Schreiber kann ich Geschäftsführer nicht qualifiziert beurteilen, doch Zeitgenossen, die besser wissen, worauf es bei Verlegern ankommt, schätzen Kalle; Karl-Dietrich Seikel zum Beispiel, lange Jahre Geschäftsführer des Spiegel.

Wie gesagt: Bei allen richtungsweisenden Entscheidungen über das Schicksal der taz lag Kalle richtig. Sechzig zu werden ist keine Kunst, aber in dieser Zeit so viel richtig gemacht zu haben, ist es schon. Alle Achtung. Darauf könnte und sollte er ein wenig stolz sein - auch wenn er das nicht nach außen zeigen würde. Respekt, Kalle! Michael Sontheimer

■ Michael Sontheimer, Chefredaktion 1992 bis 1994