„Der Westen kennt diese Musik nicht“

FESTIVALS Das „1. Russische Kammermusikfest“ in Hamburg präsentiert spätromantische Komponisten. Einige von ihnen schätzten die Oktoberrevolution, andere flohen vor ihr. Im Konzertprogramm sind sie posthum vereint. Festival-Erfinder Dietsch erklärt, warum

■ hat den Hamburger Verein „Musikförderung“ mitgegründet, der das Kammermusikfest veranstaltet. Foto: privat

taz: Herr Dietsch, warum braucht Hamburg ein russisches Kammermusikfestival?

Gebhardt Dietsch: Nicht nur Hamburg braucht das, sondern Deutschland überhaupt. Die Bandbreite russischer Musik ist hierzulande kaum bekannt, weil man immer dieselben Komponisten spielt: Tschaikowsky, Rachmaninow, Schostakowitsch … Aber Russland hat mehr zu bieten. Und warum das Festival nach Hamburg gehört, kann ich Ihnen sagen: weil es hier eine riesige Community russischer, meist jüdischer Musik-Emigranten gibt. Die treten aber selten auf, weil sie vor allem russische Musik im Repertoire haben, die – abgesehen von den erwähnten Standardkomponisten – im Westen nie aufgeführt wird. Einige dieser Emigranten habe ich für unser Festival gewonnen.

Anhand welcher Kriterien haben Sie die Komponisten ausgewählt?

Wir konzentrieren uns im Wesentlichen auf die Spätromantik am Übergang zur Moderne, haben aber auch Zeitgenossen wie Sofia Gubaidulina, Alexander Schurbin und Yuri Falik im Programm. Zudem wird es eine Hommage an Mussorgski geben, dessen Lieder und Klavierwerke kaum bekannt sind. Mit Ausstellung, Vortrag und Konzert würdigen wir außerdem den Deutsch-Russen Nikolai Medtner, den letzten Spätromantiker Russlands. Er hat ein hochkarätiges Klavierwerk hinterlassen, das zwar von namhaften Pianisten eingespielt wurde, in Konzerten aber selten zu hören ist.

Ist die Spätromantik die einzige russische Musikepoche, die der Westen ignoriert?

Nein. Auch die sowjetische Musik gehört dazu. Das liegt natürlich auch daran, dass in der Sowjetunion Politik und Kultur verquickt waren. Etlichen Komponisten wurde deshalb vorgeworfen, politische Musik zu schreiben. Aram Chatschaturjan, dessen Viola-Sonate wir präsentieren, war zum Beispiel Präsident des Zentralverbands der sowjetischen Komponisten und hat dort eine unrühmliche Rolle gespielt. Auch Schostakowitsch wurde vorgeworfen, dass er seine Musik in den Dienst der sowjetischen Propaganda stelle. In der DDR wurde Musik dieser und anderer sowjetischer Komponisten zwar aufgeführt, im Westen aber eher selten. Hier hat man sich auf Emigranten konzentriert – Strawinsky und Rachmaninow etwa, die vor der Oktoberrevolution ins Exil geflohen sind.

Eben diese Revolution spaltet ja die Musiker der Spätromantik. Trotzdem präsentieren Sie den Exilanten Medtner zusammen mit dem sowjettreuen Michail Ippolitow-Iwanow. Wären die beiden damit einverstanden, wenn sie noch lebten?

Das glaube ich schon. Solche Animositäten werden überschätzt. Ich würde die Komponisten des betreffenden Abends eher in Vertreter der Petersburger und der Moskauer Schule unterteilen. Sergej Bortkiewicz und Medtner entstammten der Moskauer, Ippolitow-Iwanow und César Cui der Petersburger Schule. Die Moskauer Komponisten orientierten sich an westlichen Komponisten, während die Petersburger erstmals mit russischen Stoffen arbeiteten, einen Nationalstil suchten und letztlich eine originär russische Musik schufen.

Fürchten Sie nicht, durch diesen „nationalromantischen“ Fokus das Klischee vom typisch russischen Klang zu bedienen?

Nein. Dafür ist unser Programm zu vielfältig. INTERVIEW: PS

2. – 12. 9. 2010, Hamburg. www.musikfoerderung.de/kammermusikfest