Die Freiheit, fremd zu sein

Integration ist die heilige Kuh des Zeitgeistes: Arbeitslose, Gebärunwillige und Ausländer sollen den Erfordernissen der Zeit gehorchen und sich integrieren, um als Einheit auf ein ungewisses Ziel hinzuarbeiten. In diesen Plädoyers wird vergessen, dass Desintegration ein kultureller Wert ist

Henry David Thoreau merkte: Lieber isoliert als vom falschen Leben umzingelt

VON CHRISTIAN KORTMANN

Integration – mit kaum einem Schlagwort kann man sich heute größerer Zustimmung sicher sein. Doch jedes Mal, wenn, zum Beispiel in einer politischen Talkshow von einem Herrn in grauem Anzug, die „vollständige Integration“ von Ausländern gefordert wird und dies beim Publikum auf Beifall stößt, ahnt wohl keiner der Beteiligten, was es bedeutet, Ausländer zu sein. Wer selbst im Ausland gelebt hat, weiß, wie schwierig es ist, in einem Land zurechtzukommen, in dem man Sprache und Sitten erst erlernen muss und in dem man von jedem als Fremder behandelt wird: Ausländersein ist eine der intensivsten Erfahrungen der menschlichen Freiheit und ihrer engen Verwandtschaft mit der Verlorenheit. „People are strange when you’re a stranger / Faces look ugly when you’re alone / Women seem wicked when you’re unwanted / Streets are uneven when you’re down“, sang bekanntlich Jim Morrison.

Am wenigsten wünscht man sich da, von irgendjemandem aufgefordert zu werden, dies oder das zu tun, etwa auf einem Bogen Fragen zur Landeskunde zu beantworten, die einen nicht interessieren. Denn auch das weiß, wer die Fremde kennt: Das Individuum lebt ja überall ähnlich. Egal, wohin es verpflanzt wird, es passt sich nicht vollständig den regionalen Sitten an, sondern richtet vielmehr die eigenen Gewohnheiten anhand der Möglichkeiten der neuen Infrastruktur aus. Das Gerüst eines vertrauten Alltags ist die einzige Konstante im Leben des Entwurzelten. Ob er irgendwo einheimisch wird oder immer fremd bleibt, das ist eine individuelle Mentalitätsfrage, aber nichts Verordenbares.

Einige der größten, allseits bewunderten Kulturleistungen wurden von gesellschaftlich Unangepassten und Desintegrierten vollbracht, die an jedem Ort Exilanten waren. Ja, gegen das Klischee der glatt integrierten Gesellschaft, in der jeder tut, was die Mehrheit von ihm erwartet, darf man ruhig mal wieder das Klischee des genialischen Außenseiters setzen, dessen Schöpfungen von seiner Differenz zur Norm befeuert werden. Man denke deshalb an den Dichter Arthur Rimbaud oder an Vincent Van Gogh. Der Schriftsteller Henry David Thoreau beschrieb 1854 in „Walden oder Das Leben in den Wäldern“ seinen Ausstieg aus der verrohten Zivilisation als den wahrhaft zivilisierten Akt: Lieber isoliert, so lässt es sich auf eine Formel bringen, als vom falschen Leben umzingelt. Und Robert Smith, Sänger der Band The Cure und bleicher Zeremonienmeister der „disintegration“, hat ein ganzes Album nach ihr benannt. Solcherart gelagerte Fälle hatte Sigmund Freud im Sinn, als er bemerkte, dass große intellektuelle Würfe nur einem einsam arbeitenden Individuum möglich seien.

Nicht nur, weil man selbst nicht von irgendwem als irgendwas integriert werden möchte, gilt es in diesen Tagen, da Arbeitslose zu Tätigkeiten weit unter ihrer Qualifikation gezwungen werden und feiste Männer unwidersprochen gebärunwillige Frauen im Namen des Volkswohls zum Kinderkriegen auffordern, an den kulturellen Wert von Individualismus und Desintegration zu erinnern. Denn die von der Mehrheit definierte und gewünschte Norm ist nicht per se erstrebenswert. Von ihr geht nämlich seit jeher ein immenser Druck aus, Außergewöhnliches zu stutzen, um es ins herrschende Mittelmaß einzupassen. Für den kulturellen Fortschritt ist es aber umso wichtiger, dass der Einzelne genug Eigensinn an den Tag legt, um seine Ideen durchzufechten, auch wenn es dafür keinen Applaus gibt. Durch mehr Mut, Andersartigkeit und Desintegration zuzulassen, würde die Gesellschaft innovative Impulse gewinnen. Sie würde das de facto vorhandene, bislang verschmähte Potenzial der so genannten Parallelgesellschaften nutzen, die dort entstehen, wo sich mehrere Desintegrierte zusammentun.

Solche Parallelgesellschaften gelten gemeinhin als Bedrohung der sozialen Ordnung. Doch das Gegenteil ist der Fall: Parallelgesellschaften sind nicht das Hauptproblem des Staates, sondern Thinktanks der Vielfalt und deshalb eine der erfreulichsten Erscheinungen im Deutschland der Gegenwart. Auch wenn der Kontakt zu ethnisch formierten Parallelgesellschaften oft nur flüchtig ist, etwa im türkischen Imbiss, so empfindet man es als beruhigend, dass Einwanderer selbstverständlich ihren gewohnten Lebensstil pflegen können. „Multikulti“ war für diese Realität immer schon ein zu harmloser Begriff. Es geht nicht um eine bunte Menschendekoration und exotische Speisenauswahl im Alltag, sondern um eine Gesellschaft, in der Unangepasstheit möglich ist. Wer sich die Mühe macht, genauer hinzuschauen, erkennt, dass sich hinter jeder Parallelgesellschaft ein reiches Paralleluniversum mit eigenen Regeln und Mythen verbirgt. Weil ein beachtlicher Anteil der Bevölkerung in den parallelen Realitäten lebt, scheint die Gesellschaft immunisiert gegen reaktionäre Fantastereien von „deutscher Leitkultur“ und „Schicksalsgemeinschaft“, in die, wie der CDU-Politiker Volker Kauder meint, Einwanderer sich zu fügen hätten: bislang der Tiefpunkt im großen Integrationsgefasel.

Im Grunde leben wir doch alle parallel nebeneinander her, in relativ harmonischer Desintegration. Denn Parallelgesellschaften konstituieren sich nicht nur über ethnische Zugehörigkeiten. Ebenso können ein Hobby, etwa der Reitsport, eine ökologisch-alternative Weltanschauung, die sich über den Einkauf im Bioladen definiert, oder die Mitgliedschaft im Fanclub von Tokio Hotel einen ganzheitlich-esoterischen Lebensstil hervorbringen. Berührungspunkte haben diese Parallel-Szenen nur mehr auf der staatlichen Plattform, die sie ermöglicht. Zudem grenzen als vielleicht wichtigster Faktor Einkommensunterschiede soziale Gruppen voneinander ab: Wenn man die heutige Gesellschaft überhaupt als Einheit beschreiben will, dann ist sie eine große Zweck-Wohngemeinschaft. Unter den Grundbedingungen von Demokratie und Migration wird sich diese Tendenz in Zukunft verstärken und die homogen germanische Musterfamilie, von der Volker Kauder und andere träumen, nur eine Variante von vielen sein. Wenn alle Parteien in dieser Zweck-WG also ohnehin die Rollen spielen, die sie wollen, als wen oder was sollte man da einen Neuankömmling integrieren?

Aus dieser Perspektive erscheinen Landeskunde-Fragebögen und Integrationskurse als Bedingung für die Einbürgerung vollends lächerlich: Als könne es im Kosmos der unfassbar vielfältigen Kultur der Gegenwart (deren Wissen in der Tat unendlich ist, weil es jeden Tag wächst, was früher nur in Bibliotheken nachzuvollziehen war und heute an Internetsuchmaschinen verblüfft) einen Kanon von verbindlichen Fragen geben! Das Leben ist so viel mehr als der traurig-verklemmte Minderheitenbereich der „deutschen Leitkultur“. Vive la différence: Klar, das ist ein ziemlich alter Slogan, aber man könnte ihn auch heute wieder gut an jede Wand sprühen.

Eine weltoffene Gesellschaft sollte nicht nur Integration ermöglichen, sondern muss sich auch das Angebot zur Desintegration leisten. Sich überall fremd fühlen zu dürfen, nicht mitzumachen, desintegriert bis zur Asozialisation, ist eine ebenso luxuriöse wie unabdingbare individuelle Freiheit, die Demokratien aushalten müssen. Keine Sorge: Auch Außenseiter und Parallelgesellschaften sind bemüht, nicht gegen die Gesetze des staatlichen Gesamtgefüges zu verstoßen, da sie ja am eigenen Ast sägen würden. Aber es wirkt weltfremd, Integration von wem auch immer einzufordern. Solche Forderungen mutieren gar zu Heuchelei, wenn man sieht, wie vorbildlich Deutsche sich im Ausland integrieren, etwa in Mallorca: Als Tourist bestellt man hier in Restaurants ganz selbstverständlich auf Deutsch, was einen aber nicht daran hindert, zu Hause Sprachtests für Einwanderer zu fordern. Wer dauerhaft übersiedelt, der sorgt dafür, dass er auf der Baleareninsel den gewohnten Lebensstil im deutschen Bekanntenkreis führt, inklusive deutschem Bäcker, der das unverzichtbare Vollkornbrot backt. Richtig glücklich ist der Mensch eben nur in seiner Parallelgesellschaft – ob integriert oder desintegriert, das kann man sich nicht immer aussuchen.