Unter Geiern in Felsennischen

NORDSPANIEN Während der Klettersport immer neue Superlative braucht, hat die Provinz Lleida sie längst nicht mehr nötig: Sie ist bereits ein Mekka für Spitzenkletterer und Amateure

Kletterführer: Eine grobe Übersicht gibt Andreas & Katrin Motzet: „Pyrenees rock.“ Selbstverlag Motzet, 2008, 340 Seiten, englisch/deutsch, 34,90 Euro

Vollständiger sind lokale Kletterführer: J. M. Casals u. a.: „Salvatge Oest de Catalunya“. Supertrack editions, 2006, englisch/spanisch/französisch/katalanisch, 23,50 Euro Luis Alfonso, Xavier Buxó: „Vilanova de Meià y zonas cercanas“. Selbstverlag, 2002, spanisch, 18 Euro Luis Alfonso, Xavier Buxó: „Terradets“. Supertrack editions, 2005, spanisch, 16 Euro Luis Alfonso, Xavier Buxó: „Montsec oeste“. Selbstverlag, 1998, spanisch, 14,40 Euro

Unterkunft: www.campinglanoguera.com

Allgemeine Informationen: www.lleidatur.com

VON ANNIKA MÜLLER

Nur selten verirren sich Touristen in die dünn besiedelte Provinz Lleida im nordspanischen Hinterland. Doch die, die kommen, finden, was sie suchen: steile Felsen und jede Menge Abenteuer. „Lleida bietet unendliche Möglichkeiten für Kletterer“, sagt einer, der es wissen muss: Der 35-jährige Dani Andrada ist einer der besten Felskletterer weltweit. Alle Kontinente hat der gebürtige Madrider bereist, um dann in den urtümlichen Felslandschaften Kataloniens die perfekte Spielwiese zu finden. „Ich entdecke hier auch nach zehn Jahren noch immer unberührte Felswände“, begeistert sich Andrada.

Zwischen der Ebene von Lleida, wo intensiver Obstanbau betrieben wird, und den Pyrenäen reiht sich ein Felsmassiv ans andere. Die Flüsse haben tiefe Schluchten gegraben, in denen nicht nur zahlreiche Greifvögel nisten, sondern auch Kletterrouten in allen Längen und Schwierigkeitsgraden locken. „Hier sind einige der schwersten Routen weltweit entstanden“, sagt der Norweger Magnus Midtboe. Der mehrfache Jugendweltmeister sucht wie viele Kletterprofis regelmäßig die Herausforderung der Kalkfelsen in Lleida, die „steiler, länger und härter als anderswo in Europa“ seien.

Dass sich heute in der Gegend die wichtigen Protagonisten der Sportkletterszene ein regelmäßiges Stelldichein geben, ist dem sympathischen Spanier Andrada zuzuschreiben. In einer Höhle nahe dem Ort Santa Linya hat er 26 Routen eingerichtet, deren Schwierigkeitsgrad bis 9b nach der dort gültigen französischen Kletterskala reicht. Dies entspricht dem 12. Grad einer deutschen Skala. Heute hat Andrada zwei, der US-Amerikaner Chris Sharma drei dieser 9b-Routen auf dem Erstbegehungskonto.

Mit Hanfseilen und Klemmkeilen wagten sich die Pioniere im Jahr 1958 an die Felsen

Sharma folgte wie viele andere dem Ruf seines Freundes Andrada nach Lleida und ließ sich vergangenen Sommer im Dörfchen Sant Llorenç nieder. „Hier habe ich das Gefühl von Heimat“, sagt der 29-Jährige, der bereits vor über einem Jahrzehnt als Revolutionär seines Sports gefeiert wurde. Doch auch weniger Trainierte finden zahlreiche Klettergebiete in der Provinz Lleida. Vor allem der Kalkgebirgszug Montsec lockt schon von Weitem. Wie ein Reptil streckt sich die charakteristische Sedimentfalte unter der sengenden Sonne aus und zieht eine über vierzig Kilometer lange, nahezu schnurgerade Linie vor den Pyrenäen. Der für den Massentourismus noch unentdeckte „trockene Berg“ gilt Einheimischen als Paradies für Abenteuersport aller Art: Paragliding vor der spektakulären Kulisse der Hochpyrenäen, Wildwasserkajak und Canyoning in den zwei tiefen Schluchten, die den langen Bergrücken zerschneiden, sowie anspruchsvolle Mountainbiketouren. Der Kletterszene ist der Montsec nicht nur wegen der Höhe seiner Südwand – der tiefste Punkt liegt auf 400, der höchste auf 1.600 Höhenmetern –, sondern vor allem wegen der langen Begehungstradition ein Begriff. Längst bevor das Klettern zum Wettkampfsport wurde, machten sich hier einige Unbeirrbare daran, die steilen Wände zu erklimmen.

Manel Cortès war einer der umtriebigen jungen Menschen, die in der düsteren Zeit der Franco-Diktatur einem neuen Lebensstil frönten. Mit Hanfseilen und Klemmkeilen, die sie aus Holz herstellten, wagten sich die Pioniere im Jahr 1958 zunächst an die Felsen um den Stausee von Sant Llorenç, dann an den höheren Montsec und seine gewaltigen Schluchten Terradets und Mont-Rebei. „Der heute 75-jährige Cortès mit der ledrigen, braungebrannten Haut kann von großen Abenteuern erzählen, die „von viel lebensgefährlichem Dilettantismus“ geprägt gewesen seien. Gefährlich war das Treiben in doppelter Hinsicht: Der von Cortès Ende der fünfziger Jahre gegründete Kletterverband Lleida wurde anfangs als regimefeindliche Organisation eingestuft.

Über die „Cade“-Route an der 580 Meter langen Wand der Schlucht des Terradets-Passes wurde der Montsec 1959 erstmals bestiegen. Wer sie nachklettert, kann heute, fünfzig Jahre später, nur Respekt empfinden. Heute sind die 21 Seillängen mit Bohrhaken ausgestattet. Dennoch macht sich in den steilen Abschnitten weit über der Straße hängend das Abenteuergefühl von damals breit. Es hallt wie in einem Amphitheater, wenn sich ein Stein unter den Füßen löst und in die Tiefe rauscht.

In der Mont-Rebei-Schlucht, dem zweiten tiefen Einschnitt, den die Erosion in den Montsec gewetzt hat, bleibt das Klettern bei seinen Ursprüngen. Nur ein schmaler, in den Fels gehauener Steig führt in die teilweise nur zwanzig Meter enge Kluft, unten gluckst das Wasser, nur wenig Sonnenlicht dringt ein. Bohrhaken sucht man hier vergeblich. Die Gurte wiegen schwer, wenn man mit Klemmkeilen, unzähligen Bandschlingen und Karabinerhaken den Marsch zum Fuß des Felsen antritt. Dafür kann man in der unter Naturschutz stehenden Felsspalte die Zivilisation vergessen, während oben Gänse-, Schmutz- und Bartgeier und mit etwas Glück sogar seltene Habichtadler ihre Kreise ziehen.

Einst gab es fünf, sechs Routen an jeder Wand – heute verliert man den Überblick

Auf dem Hochplateau des Montsec angekommen, entschädigt ein atemberaubender Blick auf die Pyrenäen und über die Ebene von Lleida alle Mühen. „Als Kind sah ich oft den Montsec im Abendlicht leuchten und wusste: Dort will ich einmal hinauf“, erinnert sich Manel Cortès, der zwei Bücher über den von ihm so geliebten Berg veröffentlicht hat.

Von der Seeterrasse der Bar in Sant Llorenç blickt der alte Mann auf die Felswand, an der die Geschichte des Kletterns in der Provinz Lleida und seine eigene Felslaufbahn begann. Heute blinken hier Tausende von Bohrhaken in den Wänden, über denen mehr Geier gleiten als je zuvor. „Die Zeiten haben sich geändert“, sagt Cortès. Inzwischen wird auch im Klettergebiet Sant Llorenç bis zum Schwierigkeitsgrad 9a geklettert. Doch manches blieb unverändert: In der Dorfbar zapft der alte Jaume noch immer im Schneckentempo das Bier und hört sich seit vierzig Jahren die Geschichten nach Kletterschluss an. Man isst „Pa amb tomaquet“, das katalanische Tomatenbrot, und lässt den Wein in kräftigem Strahl aus dem „Porró“ genannten Trinkgefäß direkt in den Mund schießen. Wie früher liegen in einer staubigen Ecke die handgezeichneten Felsskizzen, die nur zum Teil durch moderne Kletterführer auf Hochglanzpapier ersetzt wurden. „Einst gab es fünf, sechs Routen an jeder Wand – heute habe ich den Überblick verloren“, klagt der alte Jaume. Dass sich mit Chris Sharma der vielleicht weltbeste Sportkletterer ausgerechnet in seinem kleinen Weiler niederließ, scheint dem Wirt nur natürlich. Dass mit dem Kletterstar oft auch das Fernsehen in den verlassenen Winkel kommt, auch. Sein nüchternes Fazit: „Zu irgendetwas müssen die Felsen ja gut sein – und sei es nur, dass sich die Jungs die Hörner abstoßen können.“