Ende der Abstraktheit

KRIEGSREPORT Der Bildband „Kunduz, 4. September 2009. Eine Spurensuche“ gibt den 91 Afghanen, die bei dem deutschen Bombenangriff starben, ein Gesicht. Heike Groos’ „Das ist auch euer Krieg“ berichtet von den Nöten der deutschen Soldaten

Diese Geschichten erzählen sie nicht, um die Afghanen zu guten Menschen zu erklären

VON THOMAS HUMMITZSCH

Ein Leben in Afghanistan ist fünftausend Dollar wert. Auf diesen Entschädigungsbetrag einigte sich die Bundeswehr Anfang August mit den Opferfamilien des Luftangriffs von Kundus. Für die Bundeswehr ist der Fall damit abgeschlossen. Andere Rechtsansprüche oder gar eine Schuld deutscher Soldaten erkennt die außergerichtliche Einigung nicht an. Wer sind aber diejenigen, die diese moderne Form des Blutgelds erhalten? Welche Opfer haben sie zu beklagen? Und was ist in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 geschehen? Diesen Fragen sind die Journalisten Christoph Reuter und Marcel Mettelsiefen nachgegangen. Unter dem Titel „Kunduz, 4. September 2009. Eine Spurensuche“ legten sie bereits im Frühjahr die Ergebnisse ihrer Recherchen vor.

In dem dokumentarischen Bildband rekapitulieren sie die Geschehnisse in der Bombennacht von Kundus. Sie listen chronologisch auf, was sich bei den von den Taliban entführten Lastwagen ereignete, und zeichnen die Gespräche zwischen den Verantwortlichen in Kabul, Masar-i-Scharif und Kundus bis zu dem fatalen Angriffsbefehl von Oberst Georg Klein nach. Verdienstvoll ist ihr Buch vor allem deshalb, weil die beiden Journalisten den Opfern und ihren Angehörigen – wenn auch ausschließlich den männlichen! – darin Namen und Gesicht geben. Reuter und Mettelsiefen machen so der bequemen Abstraktheit ein Ende, mit der die Opfer der Kundus-Affäre behandelt werden. Sie holen die Toten und ihre Familien aus der Anonymität und konfrontieren die deutsche Öffentlichkeit mit den Geschichten der Opfer. Dafür haben sie die Familien der 91 Todesopfer ausfindig gemacht und aufgesucht. Gemeinsam mit den Dokumenten der Opfer und Porträts der Hinterbliebenen lassen sie die verhängnisvolle Nacht samt fatalen Folgen des Luftangriffs überaus greifbar werden. Es sind Geschichten wie die des 15-jährigen Rahmatullah, der den Luftschlag zwar mit schwersten Verbrennungen überlebt hatte, aber wenige Tage später in einem Kabuler Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Oder die von Mohammed Akram, der von seinem Vater am Morgen des 4. September nur noch den Torso fand und nun mit 16 Jahren die Verantwortung für seine elfköpfige Familie trägt.

Diese Geschichten erzählen die beiden Journalisten nicht, um die Afghanen zu guten Menschen zu erklären. Sie wollen auch nicht abschließend klären, wer von den Opfern Zivilist oder Taliban war. Dies sei ohnehin unmöglich, „weil die Unterscheidbarkeit eine Fiktion“ sei. Doch, so die Autoren, den Toten „gebührt der Respekt, als Individuen wahrgenommen zu werden“.

Wie schwierig das mit der individuellen Wahrnehmung ist, zeigt auch der Umgang mit dem Leid, welches der Afghanistan-Einsatz bei deutschen Soldaten verursacht. Die Traumata, die Bundeswehrsoldaten von ihren Missionen mitbringen, wurden lange ignoriert. Erst als die deutsche Militärärztin Heike Groos mit ihrem Frontbericht „Ein schöner Tag zum Sterben“ im vergangenen Jahr einen ersten Einblick lieferte, begann die Debatte über die körperlichen und seelischen Verletzungen der deutschen Soldaten in Afghanistan. Die schonungslose Auseinandersetzung der Bundeswehrärztin mit ihren Erlebnissen avancierte umgehend zum Bestseller. Selbst in Militärkreisen wurde das Buch diskutiert. Dabei wurde die Bundeswehr darin als eine Armee beschrieben, die mit dem Afghanistan-Einsatzes heillos überfordert ist und ihre traumatisierten Soldaten nach ihrer Rückkehr schutzlos lässt. Dass diese Einschätzung von zahlreichen Bundeswehrangehörigen geteilt wird, belegen die 22 Berichte in Groos’ neuem Buch „Das ist auch euer Krieg“, die Soldaten und deren Angehörige verfasst haben.

In der Summe wird die Bundeswehr als Armee bezeichnet, die ihre Soldaten nicht nur im Stich lässt, sondern sie im schlimmsten Fall auch noch verhöhnt und bestraft. Denn anders können es die aus Afghanistan Heimkehrenden nicht auffassen, wenn sie in ihrer Kaserne als Drückeberger und Dauerurlauber empfangen werden, wenn ihnen Vorgesetzte die Karriere verbauen, nur weil sie sich nach ihrem Einsatz psychotherapeutisch unterstützen ließen. Die Betroffenen müssten Wut und Empörung verspüren, doch in geradezu militärischer Disziplin erstatten sie sachlich und reflektiert ihren Bericht. Und gerade mit dem, was sie zu sagen haben, erlangen sie eine besondere Glaubwürdigkeit.

Die Autoren der Texte wollen nicht Orden und Auszeichnungen für ihren Einsatz und auch nicht allgemeines öffentliches Verständnis. Aber sie fordern für sich und ihre Familien die Loyalität und Unterstützung der sie entsendenden Politiker und des Heers. Angesichts des immer gefährlicher werdenden Afghanistan-Einsatzes scheint dies nicht zu viel verlangt. Die Wirklichkeit eines Krieges, der in Deutschland so nicht genannt wird, ist vielfältig. Die Autoren dieser Bücher führen sie uns in aller Deutlichkeit vor Augen.

Christian Reuter, Marcel Mettelsiefen: „Kunduz, 4. September 2009. Eine Spurensuche“. Rogner & Bernhard, Berlin 2010, 128 S., 19,90 Euro

Heike Groos: „ ‚Das ist auch euer Krieg’. Deutsche Soldaten berichten von ihren Einsätzen“. Krüger, Frankfurt a. M. 2010, 207 S., 18,95 Euro