COLORADO, DAS IST IMMER NOCH DER WILDE WESTEN
: Awesome, Honey!

Bridge & Tunnel

OPHELIA ABELER

Der erste Schuss reißt dem Pizzaboten den Unterkiefer weg. Der zweite zerfetzt die Halsschlagader, Nummer drei, vier und fünf treffen ins Herz. Den sechsten Schuss feuert das Mädchen wie zum Spott auf die Pizza ab, die der Mann ihr im aufgeklappten Karton entgegengehalten hatte. 2,5 Sekunden, und das Magazin der Walther PPS Kaliber 40 ist leer. Während sie die Haare zurückwirft und ein neues Magazin in den Griff schiebt, reckt ihre Mutter den Daumen hoch: „Awesome, honey!“

Mit der randlosen Schutzbrille und den straffen Zügen sieht die Mutter aus wie Sarah Palin in Blond. (Ich dachte erst, sie hat sogar die gleiche Brille wie Palin, aber das war dann doch nur die Acrylbrille, die man an einem Schießstand tragen muss. Mit der Schutzbrille sieht jeder ein bisschen aus wie Sarah Palin.) Sie drückt den Knopf der Scheibenzuganlage, das zerlöcherte Plakat kommt angeruckelt. Die Mutter hängt jetzt einen Zombie für den kleinen Sohn dran – mit seinen 130 cm Körpergröße reicht er so eben über den Schießstand. Die Tochter legt dem Kleinen die Walther hin.

Die PPS ist die verschlankte deutsche Polizeipistole des Ulmer Waffenherstellers Walther; leichter, aber großkalibriger. Sie wird inzwischen in Lizenz von Smith & Wesson in den USA hergestellt. In Deutschland wird sie damit beworben, besonders sicher zu sein, auf der amerikanischen Webseite heißt es, sie sei James-Bond-mäßig cool, eine „kulturelle Ikone“.

Es ist eine Halbautomatik mit Magazingrößen von 6 bis 8 Schuss, man kann Grizzlybären mit ihr erschießen, sagt mein Freund Marc, der allerdings auch sagt, dass niemandem, der kein Schießtraining absolviert hat, dies je gelingt. Die Bären sind einfach schneller, als die Hemmschwelle vor dem Abdrücken fällt. Marc sagt, dass ansonsten eigentlich nur noch in Ländern, die auf -stan enden, Familien das Wochenende mit Schießübungen verbringen.

Colorado, das ist immer noch der Wilde Westen, selbst wenn aus den Goldgräberstädten schicke Skiorte geworden sind. Es ist der achtgrößte Staat der USA mit der achthöchsten Selbstmordrate, hat aber nur ein Viertel so viele Einwohner wie New York State. Hier ist wirklich alles anders als in New York. Wenn es schneit, fährt man auf den weltbesten Pisten Ski oder Snowboard, anstatt in der U-Bahn festzustecken. Wenn man sich umbringt, dann mit einer Waffe, nicht mit Tabletten. Die Supermärkte sind so groß wie Fußballstadien, dicke Leute fahren auf eigens für sie bereitgestellten Elektrovehikeln durch die Straßen mit den Regalen, die vollgepackt sind mit Großpackungen von allem, wovon man sich in New York schon kaum eine kleine Packung leisten kann. Hier wird noch geraucht, denn Zigaretten kosten nur 5,50 Dollar, nicht 14,50. Neuerdings ist sogar Cannabis legal.

Neben den prachtvollen Rocky Mountains, den darüber kreisenden Adlern, den an ihrem Fuße grasenden Büffeln und den hingetupften Karl-May-Festspielkulissen ist Colorado auch: Columbine, Aurora und zuletzt Arapahoe. 2013 war ein Rekordjahr im Waffengeschäft, etwa 380.000 Schusswaffen wurden in Colorado legal erworben, Begründung: Selbstverteidigung.

„Schon Pot gekauft?“, textet aufgeregt mein Brooklyner Nachbar, der aus Boulder kommt. „Nein, aber geschossen“, schreibe ich zurück.

Die Berliner Künstlerin Tina Winkhaus hat einmal eine Serie aus Fotografien und Videos mit dem Titel „Sorrow“ gemacht. Sie hat Jungen porträtiert, während diese zum ersten Mal eine Waffe abfeuern, darunter ihr eigener Sohn. Die Übersetzungsmöglichkeiten von „Sorrow“ reichen von Leid über Schmerz zu Reue und Trauer. All dies fühle ich, als ich zum ersten Mal schieße. Die Hände zittern, der Bär hätte mich längst gefressen, während ich mit dem Verlust meiner Unschuld hadere.

Der kleine Junge hat inzwischen den Zombie ausgerußt, drei Magazine in weniger als einer Minute. Keine Spur von Hemmschwelle, die reinste Routine. So wie er trifft, wäre jetzt die Hälfte seiner Klassenkameraden tot. So wie seine Schwester trifft, hätte sie ihn vorher erschossen. Die Mutter ist hochzufrieden, sie alle haben sich jetzt eine Pizza verdient. Ihre Kinder können sich Gott sei Dank gegen die bewaffneten Irren da draußen verteidigen.

■ Ophelia Abeler ist Kulturkorrespondentin der taz in New York