„Staatschef Tito war mein Pate“

EXJUGOSLAWIEN Sudbin Music überlebte Krieg, Mord und Konzentrationslager – doch Hass ist keine Option für ihn. In seiner Heimat wirbt er heute für mehr Verständigung und ein friedliches Zusammenleben, vor allem aber für eine Erinnerungskultur

Sudbin Music ist eine außergewöhnliche Person. Wer kommt schon in Europa kurz nach seinem 18. Geburtstag in ein Konzentrationslager. Damals, 1992 in der westbosnischen Stadt Prijedor. „Ich hatte Träume,“ sagt er, „wie jeder in meinem Alter. Ich durfte jetzt Auto fahren, ich hörte die neueste Musik aus den USA und Europa, wollte reisen und mir überlegen, welches Studium ich beginnen sollte.“

Sein Vater war ein bekannter Musiker, aber auch Busfahrer, mit ihm, seiner Mutter und seiner Schwester lebte er das unbeschwerte Leben der Jugendlichen im damaligen Jugoslawien. „Meine Seele war geprägt durch bratsvo und jedinstvo, Brüderlichkeit und Einheit, das gemeinsame Zusammenleben der Menschen aller Nationalitäten und Religionen, das das sozialistische Regime propagierte. Staatschef Tito war mein Pate.“ Eine Ehre, die nicht viele Jugendliche auszeichnete. Gleichzeitig definierte er sich als Muslim, der Tradition seiner Familie und seines Dorfes entsprechend. Doch dann kam der Umbruch, der Putsch der serbischen Nationalisten in seiner Stadt.

Seit 1990 hatten die Nationalparteien der Serben, Kroaten und Bosniaken (Muslime) mit einer Koalition regiert. Ende April 1992 übernahmen die Serben die Macht und verhafteten sofort die gesamte Elite der Bosniaken und Kroaten: Rechtsanwälte, Politiker, Ärzte, Journalisten, Verwaltungsfachleute und die Chefs der staatseigenen Unternehmen. Dann kamen die Unteren dran. Ende Juni 1992 sein Dorf Carakovo. Soldaten kamen und erschossen viele Männer – auch den Vater – oder brachten sie in die Tötungslager Omarska und Keraterm. Die Frauen und Kinder brachten sie hingegen nach Trnopolje. Viele Frauen wurden vergewaltigt.

Dass Sudbin nicht erschossen wurde, hatte er nur einem serbischen Kollegen seines Vaters zu verdanken. Der verhinderte seine Liquidation und schob ihn in den Bus nach Trnopolje. Er überlebte zusammen mit seiner Mutter und Schwester. Im Herbst kamen sie – vermittelt durch das Rote Kreuz – über Kroatien nach Deutschland. Dort ging er in die Schule. Aber nur wenige Jahre nach dem Krieg sollten sie nach dem Willen des deutschen Staates zurückkehren.

Heute lebt die Familie in ihrem alten Haus. Sudbin engagiert sich für sein Dorf. Er hat den Friedhof für die über 300 Ermordeten des Dorfes aufgebaut. 14 Namen von seinen Familienmitgliedern stehen auf dem Denkmal. Prijedor 92 ist eine Organisation der Zivilgesellschaft. Sudbin hat keinen Hass, er will wieder für ein friedliches Zusammenleben und für Verständigung werben. Er will, dass die jetzige Mehrheitsgesellschaft der Serben in der Gemeinde Prijedor die Leiden der 3.267 Opfer und die über 50.000 Vertriebenen anerkennt. Was sie bisher nicht tut. Die Verbrechen werden von Politik und serbischen Medien geleugnet. Und Sudbin wurde mehrmals als islamischer Extremist diffamiert. ERICH RATHFELDER