Die Kinder der Verfolgten

MILITÄRPUTSCH Von einem Tag auf den anderen war alles anders: Freunde, Väter, Mütter verschwanden in Gefängnissen, als das türkische Militär am 12. 9. 1980 putschte. Das Ballhaus Naunynstraße zeigt vier Filme

Marx hat bis heute seinen Platz im Regal nicht wiedererhalten. Die Angst sitzt tief

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Jetzt waren die liberalen, politisch unsteten siebziger Jahre vorbei. Der Putsch des Militärs am 12. September 1980 war ein harscher Einschnitt für die Türkei. Die Armee verstand sich als legitime Wahrerin der nationalen Einheit und errichtete eine gute drei Jahre währende Diktatur. Deren Nachwirkungen – von der Gesetzgebung über die politische Landschaft bis hin zu den Biografien – sind bis heute spürbar.

Die Bilanz des Putsches war niederschmetternd: 230.000 Menschen wurden vor Gericht gestellt, 517 Personen zum Tode verurteilt, 50 gehängt, 30.000 Menschen verloren als „Verdächtige“ ihren Job, 14.000 die türkische Staatsbürgerschaft, über 60.000 wurden ins politische Exil getrieben, mindestens 171 Gefangene starben an den Folgen der Folter, 133.607 Bücher wurden verbrannt, 937 Filme verboten.

Zum 30. Jahrestag des Putschs macht das Ballhaus Naunynstraße mit einem kleinen, aber feinen Programm das nicht nur für die türkische Linke verheerende Ereignis zum Thema. Eine Podiumsdiskussion und ein Workshop sorgen für die erinnerungspolitische Kärrnerarbeit. Im Zentrum allerdings stehen vier Filme, deren Auswahl einigen Aufschluss darüber gibt, wie sich die Auseinandersetzung mit der Interimsherrschaft des Militärs und ihren Folgen im Laufe der Jahrzehnte verändert hat.

„Lasst den Drachen fliegen“ (Tunc Basaran, 1989) erzählt von dem kleinen Baris, der bei seiner inhaftierten Mutter im Gefängnis aufwächst. Man bekommt einen Einblick in die bunte Mischung der kleinkriminellen und politischen Insassinnen und den scheußlich engen, monotonen und alles andere als kindgerechten Gefängnisalltag. Der historische Kontext wird nie konkret benannt, im Vordergrund steht die innige Freundschaft von Baris und Inci, einer wahrscheinlich politischen Gefangenen, die auf anrührende Weise versucht, dem Kleinen das Träumen zu lehren.

Die Kargheit von Setting, Plot und Dialog sowie die dauernde Abfolge von Schuss und Gegenschuss von lächelnder Inci und lächelndem Kleinkind sind aus heutiger Perspektive gewöhnungsbedürftig. Und doch illustriert dieser Film einen oft gewählten Ansatz zur Verarbeitung noch recht frischer, schmerzhafter Erlebnisse – das mit einfachsten Metaphern operierende Kammerspiel.

„Septembersturm“ ist zehn Jahre später in der Regie des 2006 verstorbenen türkischen Kino-Patriarchen Atif Yilmaz entstanden. Er ist in Sachen Konkretion schon deutlich weiter. Wieder aus der Perspektive eines kleinen Jungen werden die für viele linke Familien zerstörerischen Folgen des Putsches verhandelt: Metins Eltern sind beide in Haft, er wird zu seinen Großeltern auf eine Ägäis-Insel geschickt. Die Tragödie politischer Verfolgung nimmt ihren Lauf: Die Eltern werden gefoltert, die Ehe zerbricht, Angst und Unsicherheit werden ständige Begleiter, Metin wird gehänselt und hat mit Verlustängsten zu kämpfen.

„Septembersturm“ zeichnet ein deutlich schärferes, klarer kritisches Bild der Post-Putsch-Jahre, allerdings im Gewand des Familiendramas, in dem Heimatliebe, Tradition und kindliche Unschuld eine allzu süßliche Rolle spielen.

Ganz anders dann die beiden dokumentarischen Beiträge, die sich mit einem Abstand von 30 Jahren ihrem Thema nähern. „Kinder des September“ (2009) ist ein Interviewfilm mit fünf ProtagonistInnen, die als Kinder politisch Verfolgter in den Achtzigerjahren in Berlin, Kopenhagen, Zürich und Paris gelandet sind. Sowohl formalästhetisch toll gelungen als auch inhaltlich auf angenehm nüchterne Art aufschlussreich ist die Videoarbeit „September 12“ von Özlem Sulak (2010). Die ein Jahr vor dem Putsch geborene Künstlerin lässt zwölf Menschen aus der Generation ihrer Eltern davon erzählen, was sich aus ihrer Sicht in der Nacht vom 11. auf den 12. September verändert hat. Die Aussagen könnten unterschiedlicher nicht sein. Ein Mann, der Mais sät, beschreibt die Zeit vor dem Putsch als Anarchie und Terror: „Danach herrschte himmlische Ruhe.“ Andere berichten von Berufsverboten, von der rasant umgepolten Sexual- und Heiratsmoral innerhalb der Linken, von der Verlegung der Gewalt von der Sichtbarkeit der Straße in die Unsichtbarkeit der Gefängnisse, von nie mehr aufgetauchten Freunden, von Ohnmacht und Selbsterkenntnis. Und immer wieder von den Büchern, die man vor den Soldaten verstecken musste. Einer, der seinen Kopf nicht ins Bild hält, schlägt vor der Kamera „Kapital“-Bände in Papier ein. Marx hat bis heute seinen Platz im Regal noch nicht wiedererhalten. Die Angst sitzt tief.

■ „Oniki Eylül – 30 Jahre Militärputsch in der Türkei“, Film- und Diskussionsprogramm unter: www.ballhausnaunynstrasse.de