Gruppensex mit Nazis

Thomas Pynchon revisited: Chandler Brossards „Wacht auf! Wir sind gleich da!“ ist das US-Gegenkulturepos der Sechzigerjahre

von MAIK SÖHLER

Es hat 35 Jahre gedauert, bis der Roman „Wacht auf! Wir sind gleich da!“ des US-Schriftstellers Chandler Brossard endlich ins Deutsche übersetzt wurde. Das kann man bedauern, weil einem über so lange Zeit ein grandioser, formal und inhaltlich wunderbar gelungener Roman vorenthalten wurde. Und man kann es bedauern, weil hierzulande damit eine der wenigen Spuren zu Amerikas derzeit verborgenstem Dichter – Thomas Pynchon – unsichtbar blieb.

Seit 1963 verbirgt sich Pynchon vor der Öffentlichkeit und wird allein durch sein Werk vernehmbar. Die nicht gerade wenigen Spurensuchen von Kulturjournalisten und Filmemachern verliefen bisher stets ergebnislos. Hat eigentlich irgendjemand mal Brossard gefragt, ob er Pynchon kennt? Was er von ihm weiß? Oder wie sonst diese erstaunliche Nähe zwischen Pynchons Romanen „V.“ und „Die Enden der Parabel“ sowie Brossards „Wacht auf! Wir sind gleich da!“ zu erklären ist?

Denn Brossard arbeitet literarisch mit ähnlichen Mitteln wie Pynchon. Phantasmagorische Ausflüge, wohlkalkulierte Akzente des Trivialromans und subtiler Humor gehen einher mit der Zerstörung von linearer Erzählung, auktorialer Identität und räumlicher Eingrenzung. Anders gesagt, einfacher: Alles kann überall spielen, es ist unwichtig, wer der Ich-Erzähler ist, allein der Leser entscheidet, ob er das alles als zusammengehörig begreifen will oder als ein Nebeneinander von Teilen aus unterschiedlichen Puzzles.

Brossard bedient sich aus dem bekannten und typischen Gemisch der US-Gegenkultur der Sechzigerjahre. Sein Personal probt den Klassenkampf und diskutiert über, wie es damals hieß, die „Rassenfrage“. Alle Spielarten von Hetero- und Homosex mischen sich mit Drogen, individueller Verweigerung, Subkultur, Verschwörungstheorie, Esoterik, Ökologie, Kunst, Psychologie, Pädagogik und Gesellschaftskritik. Der unter Linken verbreitete Antisemitismus wird mit der Kritik daran konfrontiert, Zen-Buddhismus trifft auf Mystik, alternative Ökonomie muss sich mit Mord und Terror messen lassen, der Rausch und die Fantasie kommen gebührend zu ihrem Recht.

Dass dieser Mix auch 40 Jahre später nicht nur interessant, sondern sogar anregend wirkt, liegt an Brossards Art zu erzählen. Diverse Ich-Erzähler mit den immer gleichen Namen (Jomo, Ophelia, Cedric, April, Zachary, Katz etc.) werden in zeitlich und räumlich völlig unterschiedlichen Situationen platziert. Dabei klingen alle gleich, oder aber es gibt doch einen einzigen Ich-Erzähler, durch den diverse Figuren sprechen. Im Roman selbst heißt es dazu: „Ein jeder von uns ist gleichzeitig jeder andere, und einer wie der andere treiben wir durch die Träume und Fantasien und Alltagshandlungen des anderen.“

Wahlweise finden wir uns wieder als Antikriegsdemonstranten in New York zwischen prügelnden Bullen, Patrioten und Nazis, als verletzte GIs in einem US-Feldlager in Vietnam, als Mitglied des Peace Corps in Afrika, als gerade begnadigter Mörder im England des 17. Jahrhunderts oder als Gespielin Martin Bormanns in einer Sexorgie im Nazi-Deutschland. Prosa, Dramatik und brockenweise Lyrik wechseln sich ebenso ab wie die Realität und die Fantasie bearbeitende Passagen. Die billigste Pornografie und die höchste Moral stehen Seite an Seite – mal vermittelt, mal nicht, aber bitte „immer dran denken, das Dharma-Rad muss sich drehen“.

Wir haben uns angewöhnt, das Milieu, in dem Brossards Roman spielt, als Gegenkultur zu bezeichnen. Der Autor mag das so nicht gelten lassen. Seiner Welt stellt er eine entgegen, über die es heißt: „Sex. Mord. Krieg. Verbrechen. Politischer Dissens. Landleben. Sport. So in etwa präsentierte sich Mrs. Katz bei der Lektüre der Tageszeitung das zeitgenössische menschliche Sein.“ Mal abgesehen vom Sport ist sie auf der Schlagwortebene mit den Erlebniswelten der Romanfiguren identisch. Brossard ist von rührseliger Flower-Power- Romantik weit entfernt, so weit, dass selbst die Traumwelten all der Katz, Aprils und Zacharys in der Regel lustvoll-gewaltförmig sind.

Unterhalb der Schlagwortebene aber lässt er die verschiedenen Momente des Von-der-Norm-Abweichens mit- und gegeneinander antreten: Das imaginierte linke Kollektiv hat sich den Attacken des Einzelnen zu stellen, die Utopie kracht mit Fragmenten existenzialistischer und materialistischer Philosophie zusammen. Weder Kultur noch Gegenkultur haben Bestand, aber da es etwas anderes nicht gibt, deutet nichts auf den Kollaps beider und vieles auf eine Symbiose hin. Deswegen lässt sich das 1971 in den USA erschienene Buch auch als vorläufiges literarisches Fazit der Sechzigerjahre lesen – hellsichtig, humorvoll und genial verspielt.

Am Ende bleibt nur die Frage offen, welchem der vielen im Roman selbst vorgegebenen Mottos das Buch folgt. Dem Wunsch, die Gesellschaft zu verändern, „dieses augenlose Untier, das für Schuldgefühle sorgt, ohne selbst ein Gewissen zu haben“? Der Aufforderung, die aristotelische Logik („Sittenpolizei der Fantasie“) endlich zu bannen? Oder der schlichten Nachricht „Folge deiner Neurose“, die ein Blinder einem der Protagonisten zusteckt. Aber vielleicht ist alles dasselbe und die Frage doch beantwortet. Auch darin wäre Brossard Thomas Pynchon ähnlich.

Chandler Brossard: „Wacht auf! Wir sind gleich da!“ Aus dem Amerikanischen von Bernhard Schmid. Rogner & Bernhard, Berlin 2006, 764 Seiten, 29,90 €