Ein Himmel voller Seufzer

Andre Agassi will nach den US Open seine Karriere beenden. Die Tennisszene bedauert den Abgang des Ausnahmespielers, der einst mit wallender Mähne und grellen Klamotten für Aufsehen sorgte

AUS NEW YORK DORIS HENKEL

Wie das bloß werden wird, wenn der Himmel jetzt schon voller Seufzer hängt? Seit Ende Juni weiß die Tenniswelt, dass sich Andre Agassi verabschieden wird. Was im Februar vor 20 Jahren bei einem kleinen Turnier in La Quinta/Kalifornien begann, wird früher oder später bei den diesjährigen US Open in New York zu Ende gehen.

Das kann heute sein, im ersten Spiel gegen den Rumänen Andrei Pavel, es kann in den nächsten Tagen passieren oder vielleicht, wenn alles gut geht, erst in der zweiten Woche des Turniers. Mehr als nur einen Hauch von Abschied hat er schon in Wimbledon gespürt, doch Agassi ahnt, dass es dieses Mal tiefer unter die Haut gehen wird – die Gedanken an den letzten Auftritt machen ihn nervös. Weil der 36-Jährige weiß, dass ihm jeder, ausnahmslos jeder, vom jüngsten Konkurrenten bis zum ältesten Fan auf der Tribüne, einen würdigen, stimmungsvollen Abschied wünscht – und weil er selbst nichts lieber täte, als seinen Teil dazu beizutragen.

Die Frage ist nur: Wird er das können? Seit fast vier Wochen, seit seiner Niederlage beim Turnier in Washington gegen einen kaum bekannten Italiener mit dem bedeutungsvollen Namen Andrea Stoppini, hat er nicht mehr gespielt. Wollte er das, was ihm der schon seit Jahren rebellierende Ischias-Nerv an Kraft gelassen hat, sammeln für einen letzten, großen Auftritt? „Mein körperlicher Zustand ist unberechenbar“, erklärt Andre Agassi. „Aber genau das ist ja einer der Gründe dafür, dass dies mein letztes Turnier sein wird. Im Moment fühle ich mich gut. Ich fühle mich sogar großartig. Aber darauf kann ich mich nicht immer verlassen.“ Er hat hart trainiert in der vergangenen Woche, unter anderem mit Tommy Haas. Der meint: „Also, wenn er so draufhaut wie in den zwei Stunden mit mir, dann kann viel passieren – wenn die Bälle dann auch innerhalb der Linien landen.“

Agassi wird es darauf ankommen lassen. Ein großer Teil der Motivation, die ihn in all den Jahren angetrieben hat, bestand immer darin, die Dinge in der Entwicklung zu erkennen. Zu begreifen, wie sich aus einem Schlag der nächste ableiten lässt, wie ein Sieg zum nächsten führen kann, und wie es am Ende so aussieht, als habe es an allem nie einen Zweifel gegeben. In Wimbledon hat er 1992 den ersten seiner insgesamt acht Grand-Slam-Titel gewonnen, in Paris 1999 jenen, der ihm am meisten bedeutet. Aber die Verbindung zu den US Open und zu New York ist nicht nur deshalb untrennbar eng, weil er hier vor 20 Jahren zum ersten Mal mitspielen durfte. „Auf dieser Bühne habe ich mich immer wieder beweisen müssen“, sagt Agassi. „Es hat mit einem Mangel an Akzeptanz sowohl beim Publikum als auch bei mir angefangen, aber wir sind uns längst in die Arme gefallen.“ Die Bilder aus diesen 20 Jahren erzählen die Geschichte einer Transformation, vom wilden Teenager mit wallender Mähne zum Kunstprodukt in grellbunten Klamotten, zum geläuterten Sieger, schließlich zum Familienvater, Wohltäter und Guru des Tennis.

In 20 Jahren kann man eine Menge Spiele gewinnen – bisher genau 868 –, aber die Zahl der Menschen, die er in dieser Zeit für sich gewann, ist um ein Vielfaches höher. Der amerikanische Tennisverband (Usta) stellte seine diesjährige Kampagne für die US Open ganz auf Agassi („die Legende“) ab, und selbst dessen Konkurrenten finden, das habe er verdient.

Wie der Abschied des Vielgeliebten aussehen wird, drängt all jene Fragen in den Hintergrund, die man sich normalerweise beim letzten Grand-Slam-Turnier dieses Jahres stellen würde. Ob sich Roger Federer und Rafael Nadal zum dritten Mal nach Paris und Wimbledon beim Gipfeltreffen im Finale begegnen werden. Wie weit es der zuletzt imponierend gut spielende Andy Roddick mit seinem neuen Coach Jimmy Connors bringen wird. Ob Maria Scharapowa reif für ihren zweiten Grand-Slam-Titel ist und ob Serena Williams nach langer Pause wieder Anschluss finden kann. Und als kleine nationale Ergänzung: Wo der Weg von Tommy Haas und Anna-Lena Grönefeld, den Besten der insgesamt 14 Deutschen in New York, enden wird.

Das ist Beiprogramm, bis auf weiteres. Gil Reyes, der Agassi seit 17 Jahren als Fitnesscoach, aber vor allem als enger Freund begleitet und großen Anteil an dessen Entwicklung hat, sagt, dass er ihn natürlich gedanklich, körperlich und emotional darauf vorbereitet habe, die US Open zu gewinnen. Vor allem aber darauf, die letzten Reserven zu mobilisieren. Und genau das wird Andre Kirk Agassi beim 326. und letzten Turnier seiner Karriere tun.