Wie ich den Staat boykottierte

HAMBURG taz ■ Es war etwa so, wie ich mir 1968 in meiner Fantasie immer vorgestellt hatte – nur eben 19 Jahre später und vielleicht doch eine Nummer kleiner. Überall standen in den Einkaufsstraßen meist langhaarige und meist jüngere Menschen und verteilten eifrig Flugblätter, die zum Boykott der nahenden Volkszählung aufriefen. Die Blätter wurden ihnen fast aus der Hand gerissen, denn fast jeder Passant fühlte sich betroffen.

Nachdem die Anti-AKW-Bewegung und der Widerstand gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss verebbt waren, entwickelte sich der Volkszählungsboykott (sprich: Vobo) zur neuen Massenbewegung. Allein im Hamburger Szene-Stadtteil Eimsbüttel waren wir sechs „Vobo“-Initiativen, die mit Flugschriften, regelmäßigen Tapeziertisch-Ständen und wöchentlichen Info-Veranstaltungen den Widerstand gegen die nahende Volkszählung anheizten. Der Begriff der „informationellen Selbstbestimmung“ wurde in den so genannten politischen Diskurs eingeführt. George Orwells düstere Gesellschaftsutopie „1984“ galt als Pflichtlektüre.

Jede Woche organisierten wir, eine studentisch dominierte Gruppe namens „Datenpiraten“ im Stadtteil-Büro der Grün-Alternativen Liste eine „Aufklärungsveranstaltung“ und brauchten nie über mangelnden Besuch zu klagen. Meist verließen die Interessierten die Aufklärungsabende mit einer Tasche voller Flugblätter, den Kopf voll neuer Informationen, die darauf warteten, im Freundeskreis weiterverbreitet zu werden. Wie etwa der Physikstudent, der sich bei den Datenpiraten mit den Worten vorstellte: „Ich bin Klaus, als Delegierter meiner WG hier, mit dem Auftrag herauszufinden: Wie können wir am preisgünstigsten boykottieren?“

Fragen, die nicht einfach zu beantworten waren: Einfach keine Auskunft geben, schummeln oder Widerspruch einlegen, hießen die meist diskutierten Boykott-Alternativen. Doch niemand von uns vermochte zu sagen, welche Strategie die risikoärmste sei – und am ehesten einen Erfolg versprach.

Juristische Ratgeber, geschrieben etwa von der späteren Hamburger FDP-Spitzenkandidatin Gisela Wild, kursierten, und linke Anwälte leisteten als „special guests“ auf den zahllosen Boykott-Veranstaltungen eifrig Überstunden. Apropos FDP: Die damals noch linksliberal strukturierten Liberalen waren – neben natürlich den Grünen – die einzige Partei, die den Vobo-Aktionen Beifall zollte. Eine Tatsache, die den eher radikal links orientierten Kernaktivisten etwas unangenehm war. Die Gegenseite, von uns auch „die Repression“ oder „das System“ genannt, agierte hingegen so druckvoll wie hilflos. Info-Stände wurden verboten, Volkszählungsgegner von der Straße vertrieben, Boykotteure mit hohen Bußgeldandrohungen belegt.

Am Ende konnten sich beide Seiten zum Sieger erklären: Die Statistiker behaupteten, trotz aller Störmanöver sei die Zählung erfolgreich gewesen. Wir behaupteten standfest das Gegenteil und freuten uns darüber, dass die angekündigten Strafgelder dann doch nicht eingetrieben wurden. Wer Recht hat, wurde niemals abschließend entschieden. Denn wie viele Menschen sich der Volkszählung verweigert hatten, wurde leider nie gezählt. Marco Carini

Marco Carini, 43, ist taz-Redakteur für Landespolitik in Hamburg. In den Jahren 1983/84 und 1986/87 war er in einer Bürgerinitiative gegen die Volkszählung aktiv.