alter, reich ein den riemen! von WIGLAF DROSTE
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Es gibt hienieden so viel Flüchtiges und Verzichtbares, so vieles, das uns ganz und gar wurst beziehungsweise wurscht sein kann und auch ist. Die Wurst indes zählt nicht dazu – unbedingt aber: die Wertediskussion, der iPod, die demografische Entwickung, der Bundespräsident, der Dialog der Kulturen, das positive Denken, der Breitreifen, das Vaterland und andere Folklore. Niemals aber die Wurst. Zwar ist auch sie nicht gefeit gegen die Moden der Wurstmacher, an und für sich aber ist sie ruhend und resistent.

Fälschlich für harmlos gehalten, hat die Wurst es in sich. Unter der Pelle brodelt es. Unheil und Schrecken vermag die Wurst über die Welt zu bringen, in Form der Brat- oder Curry-, ja sogar Zigeunerwurst beziehungsweise Sinti-und-Romawurst. Begleitet wird sie dabei oft von etwas, das als „Kart. Salat“ firmiert und auch zu Recht so heißen muss.

Speziell beim Grillfest triumphiert noch immer die Wurst, auch geistig, über den umnachtet das Grillfest feiernden Mann. Der trägt stolz eine Schürze vor dem Wanst mit der Aufschrift „Vati hilft gern“. Was soll man sagen? Man soll ja nicht. Sondern sich fügen in die Einsicht: Wurst waren wir, Wurst sind wir, Wurst werden wir sein, Wurst werden wir werden, auf immerdar. Alles andere vergiss lieber ganz schnell.

Arg grassiert der Wurstpatriotismus. Seine kehlig gesprochene Wuchst besingt der Rheinländer, den Westfalen drängt es zur bollerig klingenden Wuast. „A weng Woscht geht immer“, kartoffelt der Franke. Er muss es wissen, denn der deutsche Wurst-TÜV, den es selbstverständlich auch geben muss und also gibt auf dieser wurstenen Welt, hat seinen Sitz im fränkischen Kulmbach, der Heimatstadt von Thomas Gottschalk. Hier umarmen sich gleichsam Wurst- und Unterhaltungsindustrie: Wurst ist Trumpf. Esto! Beim Anblick unserer kulturellen und medialen Spitzenkräfte jedenfalls bekommt das Wort Presskopf eine ganz neue Bedeutung.

Immer und überall ist Wurst, alles Streben gilt ihr: Es geht um die Wurst, also um alles. Und mit allem, was Wurst ist, verbindet sich ein Bild aus meiner Jugend. Ich muss etwa 15 oder 16 Jahre alt gewesen sein. Mein älterer Bruder und ich nutzten die Abwesenheit unserer Eltern für eine große Party. Jede Menge Mädchen und Jungs wurden eingeladen, der Rasen und die Teppiche wurden zertanzt und die Betten zerwühlt, es war Exzess und Ekstase. Alles, was Keller, Kammern und Kühlschränke hergaben, wurde geplündert.

Frühmorgens, als wirklich die allerletzten Vorräte geräubert schienen, ein Gast aber noch hartnäckigen „Hungò!“ verspürte, fand ich im Keller doch noch eine letzte Dose mit Bockwürsten. Ich wollte ihm die Würste in Wasser erhitzen, doch er, ungeduldig, schwankte auf mich zu, griff nach einem der noch todeskalten Würstchen und forderte: „Alter, reich ein den Riemen!“ So schön und klar wurde die menschliche Trieb- und Grundstruktur selten auf den Punkt gebracht. Freud hätte seine Freude gehabt.

Unverbrüchlich gilt: Wo noch Wurst ist, da ist noch Leben. Und solange noch Leben ist, so lange ist noch Hoffnung – Hoffnung auf Wurst und immer wieder noch mehr Wurst. Denn die Wurst stirbt zuletzt.