Begreifen macht glücklich

Eine Pädagogin entwickelt Lernprogramme für Kinder mit Trisomie 21. Zwanzig Kinder lernen derzeit bei ihr Lesen und Rechnen. Über ihr neues Mathe-Konzept hat sie jetzt einen Film gedreht

„Wir müssen begreifen, dass Verschiedenartigkeit eine Chance für die Gesellschaft ist“

von SILKE BIGALKE

„Kommen Sie mit dem Mädchen nur her. Bisher konnte jedes Kind in dieser Praxis das Lesen lernen.“ Christel Manske, Doktor der Pädagogik, lässt ihrem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung keine Wahl. „Freitag 14.15 Uhr. Bis dann.“ Mit Schwung legt sie den Hörer auf, blättert ihren Kalender zurück und lächelt zufrieden. Die Gründerin des Hamburger Instituts für den Aufbau funktioneller Hirnsysteme hat eine Lebensaufgabe: Sie bringt Kindern mit Trisomie 21 – auch bekannt als „Down-Syndrom“ – lesen, schreiben und rechnen bei.

Manske hat eine Lesedidaktik für Kinder mit Trisomie 21 entwickelt, zurzeit arbeitet sie an einer Mathedidaktik. An den Universitäten Bremen und Magdeburg hat sie Pädagogik für Kinder mit geistiger Behinderung und Verhaltensstörungen gelehrt und zahlreiche Fachbücher geschrieben. Seit zehn Jahren forscht sie nun in ihrem eigenen Institut.

„Es gibt keinen guten Unterricht für falsche Kinder“, erwidert Manske. Deren eigentliches Problem sei nicht die biologische Behinderung, sondern die soziale Isolation. Denn wer Trisomie 21 hat, wird oft von Geburt an als behindert abgestempelt. Das Problem der Kinder ist, dass sie während der sensitiven Phase der Sprachentwicklung vom zweiten bis fünften Lebensjahr nicht kommunizieren können. „Kein Wunder, dass sie dann später nicht sprechen können“, sagt Manske.

An ihre eigene Kindheit erinnert sich die 65-Jährige noch genau. Hals über Kopf, flüchtete sie bei Kriegsende mitten in der Nacht mit ihrer Mutter und zwei Schwestern aus einem sowjetischen Gefangenenlager vor der Deportation der Mutter nach Sibirien. Der Vater war gefallen. „Ich bin davon überzeugt, dass es ein Problem unserer Gesellschaft ist, dass die Kriegskinder ihr Trauma nie aufarbeiten konnten“, sagt sie. Es war ein Anliegen der Studentenbewegung, die Gesellschaft zu verändern. Sie selbst hat einen Ansatz dazu in ihrem Pädagogikstudium gefunden. Schlägt dabei die Faust auf ihre Brust und zieht die Stirn in tiefe Falten. Erst jetzt sieht man der Frau ihr Alter an. In ihrem hellen Büro mit den lilafarben gepolsterten Stühlen kämpft sie bis heute gegen den Faschismus. „Was hat sich für die Kinder mit Trisomie 21 seit Hitler verändert, wenn sie heute mit einer Herztodspritze im neunten Monat im Mutterleib getötet werden können?“

Die Kinder, die mit Trisomie 21 auf die Welt kommen, haben einen schweren Stand. Nur mit einem geeigneten Bildungsangebot können sie das nötige Selbstbewusstsein erlangen, um sich einen Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen, sagt Manske. Jeder ihrer 20 Schützlinge bekommt deswegen ein eigenes Fotoalbum. Hinein klebt die Pädagogin Bilder, auf denen der Schüler bei verschiedenen Spielen und Übungen zu sehen ist. So kann er nicht nur den Lehrstoff wiederholen. Er entwickeln auch ein Bewusstsein von der eigenen Person. „Wir müssen begreifen, dass Verschiedenartigkeit eine Chance für die ganze Gesellschaft ist.“

Deswegen schließt die Wissenschaftlerin niemanden von ihrer Pädagogik aus. Gerne erzählt sie die Geschichte von Rocker-Billy, einem rechten Schläger, der mit einem Last-Minute-Angebot nach Kuba gereist war. Im Hotel traf der junge Mann auf Christel Manske und fragte sie schüchtern, wo es denn Abendbrot gebe. Den Rest ihres Urlaubs spielte Manske mit Rocker-Billy Mühle, ging mit ihm Shoppen und belegte einen Longdrink-Kurs. Belehrt habe sie den Neonazi nie. „Weißt Du Christel, meine Kumpels, die haben alle keine Arbeit. Und meine Kumpels, die lasse ich nicht im Stich“, ahmt Manske seine Worte fast liebevoll nach.

In ihrem neuen Film „Mathe macht glücklich“ zeigt sie, wie Trisomie-21-Kinder mathematische Aufgaben begreifen können. Eine ihrer Akteure ist dabei die kleine Josefine. Sie hat herausgefunden, dass in einem flachen Glas mit vier Löffeln Linsen mehr drin ist, als in einem hohem Glas mit drei Löffeln Linsen. Manske macht nach, wie sich die Stimme des Mädchens bei dieser Entdeckung vor Begeisterung überschlug. „Begreifen – das ist Lebenselexier dieser Kinder.“

„Mathe macht glücklich“ ist am Sonntag um 11 Uhr im Hamburger Abaton-Kino zu sehen. Der Film ist auch auf DVD erhältlich