Das Albtraumberufsgeheimnis

Kann man durch die Oberarme einer Fleischereifachverkäuferin zum Vegetarier werden?

Aus den Schulteröffnungen des ärmellosen Kittels ragten ihre gewaltigen Oberarme

„Geschnitten oder am Stück?“, fragte die Fleischereifachverkäuferin. Kühl war es in der Metzgerei, beinahe wurde mir ein bisschen fröschelig, nachdem ich aus der draußen herrschenden Wärme eingetreten war. Auf meinen Unterarmen bildete sich unter den Hemdsärmeln Gänsehaut, die Härchen standen ab. Vor mir wurde eine Frau bedient, ich stellte mich einen guten Meter hinter sie.

Der gekachelte Boden der Schlachterei war frisch gewischt, die Verkaufstheke blitzblank gewienert. Und doch hing ein Geruch im Raum, ein leichter, aber nicht überriechbarer, in Teilen etwas süßlicher Duft, eine Melange aus Blut, Räucherwaren und Reinigungsmittel. Ich sah mich um. Außer den Fleisch- und Wurstwaren – „aus eigener Herstellung“, wie ein Schild selbstbewusst betonte – wurden auch fremde Produkte zum Kauf angeboten: Tütensuppen, Senf und Meerrettich in Tuben, Kapern, Silberzwiebeln und Rote Bete in Gläsern, Sauerkraut und Rotkohl in Dosen.

„Geschnitten“, antwortete die Kundin, die vor mir an der Reihe war. Eine dicke Cervelatwurst wurde auf die Schneidemaschine gelegt und – ssst, ssst, ssst – scheibliert. Die Fleischereifachverkäuferin war eine Frau um die 50, groß, schwer, viel – ein Küben, ein Bottich, ein Trog. Ihr Haar war von schmutzigblonder bis grauer Farbe und von einem Frisörhalunken mit der Brennschere zu einer dieser Frauenkurzhaardauerwellenfrisuren verunstaltet worden, die ich nie verstanden habe. Das krüselige Haar sah aus wie ein gebratener Wischmopp oder wie eine dieser Damenbadekappen mit Kunsthaarapplikationen.

Traurigkeit wehte mich an. Warum tun Menschen so was? Warum lassen sich Frauen so verunstalten? Weil es praktisch ist!, hatte mir einmal eine Freundin erklärt. Das ist die praktische Kurzhaarfrisur für die Frau, die keine Frau mehr ist oder sein will, jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne des Wortes. Die praktische Kurzhaarfrisur sitzt wie angenagelt fest am Koppe und macht weiter keine Arbeit. Deshalb wird sie genommen.

Aber praktisch ist doch nur ein anderes Wort für hässlich!, hatte ich eingewandt. Stimmt!, hatte die Freundin geantwortet, „aber das ist egal. Wenn du sowieso keine Frau mehr sein willst, kannst du auf dem Kopf auch gleich aussehen wie ein Vogelnest in Gusseisen. Da ist die Sache dann klar.“

„Darf es noch ein bisschen mehr sein?“, fragte die Fleischereifachverkäuferin ihre Kundin jetzt routiniert freundlich und riss mich in eine Wirklichkeit zurück, die einem Albtraum zum Verwechseln ähnlich sah. „Nein danke!“, schnappte ihre Kundin knapp. Ich konnte ihren Mund nicht sehen, aber ich konnte ihn hören – einen kleinen, lippenarmen, verkniffenen Kneifzangenmund, der ein mäkeliges „Das wär’s!“ in die Welt entließ, als hätte die Welt genau darauf gewartet.

Die Fleischereifachverkäuferin wickelte ihrer Kundin die Beute ein, zunächst in fahles Wachspapier, dann in dickes, altrosafarbenes Einpackpapier, das vor ihrer weißen Kittelschürze nahezu rot aufleuchtete. Die Schürze glänzte matt, sie war aus reiner Kunstfaser – Nylon, Dralon, Perlon oder wie das Zeug hieß, voll mit Formaldehyd oder Asbest, ein Vorläufer der Goretex- und der Jack-Wolfskinhead-Mode. Der Stoff schimmerte so künstlich und giftig, dass man zu hören meinte, wie es klänge, wenn ein Fingernagel der Fleischereifachverkäuferin versehentlich über den Kittel ratschen würde. Es war ein leiseres Geräusch als das von Kreide auf einer Tafel, aber kein bisschen angenehmer.

Aus den Schulteröffnungen des ärmellosen Kittels ragten die Arme der Fleischereifachverkäuferin. Ihre Oberarme waren gewaltig: Fleisch im sommersprossigen, leberfleckigen, welken Saitling. Unglaublich viel weiches, schmulliges Fleisch war in diesen männerwadenstark gewordenen Oberarmen. Ich sah es und dachte, ich müsse Vegetarier werden. Oder, wenn es zum Äußersten käme, Veganer. Wollte ich das wirklich? Falschlateinisch „Veni, vidi, vegi“ rufen? Und reden wie ein nährstofffreier Stadtindianer: „Erst wenn die letzte Bifi verdrückt ist, werdet ihr feststellen, dass man Wurst nicht essen kann?“ Nein, bitte nicht.

Ich betrachtete noch einmal die Fleischereifachverkäuferin, ihre struselige Frisur, ihren Kittel, ihre Oberarme. Dann war ich auch schon an der Reihe, wie beim Zahnarzt. Ich schloss die Augen, roch den Schweiß unter den Achseln meiner Großtanten an der Sonntagnachmittagskaffeetafel, dachte „Kindheit“, dachte „Heimat“, schüttelte mich wie ein Welpe, der versehentlich ins Wasser getapst ist, öffnete die Augen und sagte freundlich: „Guten Tag. Ich hätte bitte gern hundert Gramm von der polnischen.“– „Geschnitten oder am Stück?“, fragte die Fleischereifachverkäuferin und lächelte nicht. WIGLAF DROSTE