Die Moderne lebt

Premiere an der Berliner Staatsoper: Robert Wilson kehrt mit „Deafman Glance“ zu den Anfängen seines Theaters zurück, die 66 Jahre alte Anja Silja begleitet ihn und singt danach – mit Daniel Barenboim am Pult – Arnold Schönbergs „Erwartung“

von NIKLAUS HABLÜTZEL

Mit einem Bekenntnis zur Radikalität an den Grenzen des theatralisch Möglichen hat am Samstagabend die Berliner Staatsoper ihre Saison eröffnet. Dass die Begriffe der Moderne und der Avantgarde altmodisch seien und ohnehin jede Bedeutung verloren hätten, ist ein viel zu oft wiederholter Gemeinplatz. Wahr daran ist lediglich, dass die letzten ästhetischen Revolutionen von Bedeutung schon einige Zeit zurückliegen, aber es lohnt sich, sie in Erinnerung zu rufen. Robert Wilson kehrt zurück an den Anfang seines Theaters, das in der jüngsten Zeit oft genug an den sich immer ähnlicher werdenden Stilmitteln zu ersticken drohte.

Jetzt steht er persönlich auf der Bühne und erinnert sich. So fing es an, mit „Deafman Glance“ von 1969. Eine beinahe leere Bühne, weißes, kaltes, unwirkliches Licht, zwei hochbeinige Tischchen. An dem einen steht er selbst, in schwarzem Anzug, am anderen Anja Silja, die Sängerin. Beide wenden dem Publikum den Rücken zu, das erst kurz vor Beginn der Aufführung seine Plätze einnehmen darf; unbeweglich wie Statuen stehen sie da, eingehüllt in weißes Rauschen aus den Lautsprechern, das sich allmählich zu sinnetötendem Lärm aufbläht.

Dann bricht das Geräusch auf einen Schlag ab, das Spiel beginnt in absoluter Stille. Unendlich langsam zieht Anja Silja schwarze Handschuhe an, und gießt Milch aus einer Flasche in ein Glas. Dann wendet sie sich mit derselben quälenden Langsamkeit dem Jungen zu, der neben ihr auf einem niedrigen Stuhl sitzt, den Rücken ebenfalls zum Publikum gewendet. Ihr Schlagschatten auf der leeren Rückwand verdoppelt ihr Spiel, etwas zeitversetzt vollzieht dann auch Wilson dieselben Handlungen.

Es sind keine Handlungen eines Theaterstücks mehr. Die Verdoppelung der Personen und ihrer Schattenrisse löst die Erzählung auf und verwandelt die Szene in eine Installation der bildenden Kunst. Ein Prozess vollzieht sich in größtmöglicher Langsamkeit, damit wir Zeit haben, jede Phase zu studieren. Symmetrisch hat auch Wilson einen Jungen neben sich sitzen, auch er gibt ihm das Glas Milch zu trinken, wendet sich zurück zum Tisch, wischt ein Küchenmesser mit einem Tuch blank und stößt es dem Jungen in die Brust. Dasselbe hat auch Anja Silja getan, nacheinander sinken die Jungen vom Stuhl.

Nun sind die zwei Mädchen an der Reihe, die von Anfang an auf der Bühne lagen. Sie richten sich auf, um ihre Milch zu trinken, und werden erstochen. Licht aus, Ende des Prologs für eine Inszenierung, die bei der Uraufführung noch sieben Stunden weiterging. Ohne Text und ohne Musik lässt Wilsons Theater jede psychologisch motivierte Dramaturgie hinter sich zurück. Ausdruckslos starr bleiben die Mienen, kein Motiv des verdoppelten Doppelmordes an Kindern wird erkennbar.

Die Radikalität hatte autobiografische Wurzeln in Wilsons eigener Sprachbehinderung und dem Kontakt mit Taubstummen, aber das muss man nicht wissen. Wilson und Silja, heute 65 und 66 Jahre alt, holen mit ihren Körpern, die nur mühsam der enormen Anforderung extrem verlangsamter Bewegungen gehorchen, das Abenteuer der Grenzüberschreitung zurück. Noch einmal scheint eine neue Zeit begonnen zu haben. Die Moderne lebt, und ohne dass das Publikum in die Pause entlassen wird, nimmt das Orchester Platz für die nächste Erinnerung an unerhört Neues. Im selben Kostüm kehrt Anja Silja zurück. Daniel Barenboim spielt für sie mit seiner Staatskapelle Arnold Schönbergs „Erwartung“.

Barenboim dirigiert diesen Aufschrei gegen jede Konvention des Gefühls wirklich für Silja, in ebenso großer Ehrfurcht vor dem Werk wie vor der kaum glaublichen Kunst dieser Frau, die in diesem Alter noch immer Schönberg mustergültig interpretieren kann. Es stört nicht, dass es ihrer Stimme manchmal doch am Volumen fehlt, sie singt den Monolog einer Frau, die ihren treulosen Geliebten sucht und tot auffindet, mit einer solchen inneren, abgeklärten Reife, dass man fassungslos davorsitzt. So also begann schon 1906 die neue Zeit, in der wir doch immer noch leben – und wie viel schlechtere Musik mussten wir seither hören.

Souverän führt Barenboim durch das Labyrinth dieser extremen, noch nicht durch die spätere Ordnung der Zwölftontechnik gebändigten Polyfonie. Ganz im Gegensatz zu Wilson werden hier die Grenzen der psychologischen Dramatik nicht durch Zerdehnung der Zeit, sondern durch größtmögliche Verdichtung des Ausdrucks überschritten. Als Regisseur wiederum hat Wilson glücklicherweise gar nicht erst versucht, in Schönbergs Tiefen hineinzuleuchten, und stattdessen für diesen Teil des Abends nur das abgeliefert, was inzwischen zu seinem Markenzeichen geworden ist: farbiges Licht, dazu strenge geometrische Formen und pathetisch vereinfachte Gesten. So wird zum einen der Raum des Theaters in den der bildenden Kunst und Architektur überführt, zum andern in den Raum der absoluten, nur ihrer inneren Logik folgenden Musik. Silja bewältigt beide Möglichkeiten mit altersmilder Bescheidenheit.