Zu arm für Nachwuchs

PREKARITÄT Eine Erzieherin aus Brandenburg hätte gern eigene Kinder. Aber mit einem Nettogehalt von nicht einmal 1.200 Euro kommen sie und ihr arbeitsloser Mann gerade so über die Runden – und haben Angst, den Kindern nicht genug bieten zu können

Sie glaubt, den Kinderwunsch wegdrücken, zumindest aufschieben zu müssen

VON SIMONE SCHMOLLACK

Irgendwann hat sie beschlossen, es auf sich zukommen zu lassen. Es einfach geschehen zu lassen, wenn es geschieht. Denn sie will es. Eigentlich. Aber kann sie sich das leisten?

Bianca H. ist innerlich zerrissen. Die 36-Jährige ist Erzieherin in einer kommunalen Kita in Brandenburg. Jeden Tag kümmert sie sich um 17 Dreijährige. Tisch decken, beim Essen helfen, anziehen, ausziehen, waschen, Toilettengänge, spielen, vorlesen, basteln. Wenn sie nach Hause kommt, ist sie „total fertig“, sagt sie. Trotzdem hätte sie gern eigene Kinder. Aber die hat sie nicht. Noch nicht. Sie verdient so wenig, sagt sie, dass sie damit gerade so über die Runden kommt. Wie soll sie da noch ein Kind ernähren?

Andere schaffen es auch

Andere schaffen das doch auch, könnte man gegenhalten. Andere bekommen auch Kinder, wenn sie wollen, sogar dann, wenn sie zu den sogenannten sozial Benachteiligten gehören. Die Frage aber ist, unter welchen Bedingungen Kinder groß werden, was Eltern ihren Kindern bieten wollen. Und was sie ihnen bieten können.

Diese Frage bekommt im Fall von Bianca H. eine zusätzliche Dimension: Die Erzieherin mit den langen hennaroten Haaren und dem kleinen Piercing im rechten Nasenloch kümmert sich den ganzen Tag um die Kinder anderer Leute. Sie tut ihr Bestes, damit es den Kindern fremder Leute gut geht. Und für sich selbst glaubt sie, den Kinderwunsch wegdrücken zu müssen, zumindest aber zeitlich aufschieben zu müssen. Weil sie nicht so viel Geld hat.

Die Frage ist so groß und kompliziert, dass sich damit wiederum andere beschäftigen. Die Konferenz „Care Revolution“, die am Wochenende in Berlin die Umstände sozialer Reproduktion untersucht, hat dem Thema ein eigenes Panel gewidmet: „Wo bleib’ ich? Prekarität und Reproduktion“.

Die biologische Uhr tickt im Monatsrhythmus. „Das mit den eigenen Kindern habe ich immer wieder vor mir her geschoben“, sagt Bianca H. „Manche weigern sich zu sagen, dass Geld die Welt regiert. Aber das ist so.“ Wenn sie am Monatsende auf ihr Konto blickt, erschrickt sie jedes Mal: 1.185 Euro steht da. Netto. Brutto sind das 1.666 Euro. Sie arbeitet 30 Stunden in der Woche, nicht freiwillig, sie würde gern 35 Stunden arbeiten. „Mindestens“, sagt sie. Aber ein sogenannter Flex-Vertrag, den die Gemeinde vorgibt, schreibt ihr die reduzierte Arbeitszeit vor. So wie auch den anderen 14 Erzieherinnen und Erziehern in der Kita. Nicht einmal die Chefin hat eine Vollzeitstelle.

Erzieherinnen und Erziehern muss es möglich sein, eine Familie zu ernähren, fordert der Gewerkschafter Norbert Hocke: „Auch bei einer 30-Stunden-Woche.“ Hocke verhandelt für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gerade bei den Tarifrunden für höhere Gehälter im öffentlichen Dienst. Damit verhandelt er auch für Menschen wie Bianca H. Die Gewerkschaften wollen unter anderem, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer künftig 100 Euro mehr bekommen.

„Ich muss jeden Cent zweimal umdrehen“, sagt Bianca H. Vor ein paar Tagen kam eine Mieterhöhung für ihre 54 Quadratmeter große Wohnung. In der Zweizimmerwohnung wohnen die Erzieherin und ihr Ehemann. 60 Euro mehr Miete im Monat soll die Wohnung demnächst kosten, insgesamt 600 Euro. Das ist die Hälfte ihres Nettoeinkommens, sagt sie: „Das tut weh.“ Ihr Mann kann zur Miete nichts beitragen, er ist seit Jahren arbeitslos. Ihr Gehalt, sagt sie, sei „zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel“. Zu viel, weil ihr Mann aufgrund des Einkommens seiner Frau kein Anrecht auf Hartz IV hat, Bianca H. arbeitet für beide zusammen. Zu wenig, weil die Frau sich oft nicht mal ein Ticket für den Bus leisten kann, der sie von Potsdam, wo sie wohnt, in das Dorf bringt, in dem sie arbeitet. Wenn es nicht regnet, fährt sie mit dem Fahrrad. 10 Kilometer hin, 10 Kilometer zurück. Neulich war die Fahrradkette ausgeleiert. „Die hat mein Mann repariert“, sagt Bianca H.: „Was er finanziell nicht beisteuern kann, leistet er praktisch.“

Wenn die pH-neutrale Seife, die die junge Frau als Allergikerin braucht, alle ist, wartet sie, bis die wieder im Angebot ist. Obst und Gemüse kauft sie ein, kurz bevor der Discounter bei ihr um die Ecke abends schließt. „Dann ist alles billiger“, sagt sie. Die Kette mit dem kleinen goldenen Anhänger, die sie um den Hals trägt, ist eingeschmolzen aus dem Ehering ihrer Oma.

Bianca H. will sich nicht drängen oder einschränken lassen. Schon gar nicht von der Politik, schon gar nicht vom fehlenden Geld. Schon gar nicht, wenn es um Kinder, um ihre eigene Familie geht. Bianca H. spricht sich Mut zu. Wenn sie und ihr Mann Kinder haben sollten und das Geld nicht reicht, dann will sie zum Staat gehen, sagt sie. Dann will sie alles beantragen, was es für Familien gibt: Kindergeld, Kindergeldzuschlag, Wohngeld. Dann will sie sich alles holen, was ihr zusteht. Und notfalls auch zusätzliche Sozialleistungen, Geld für arme Kinder und arme Familien. Geld, von dem sie immer gehofft hatte, es nicht zu brauchen.