Bühne frei für Profiteure

Das Entführungsopfer Natascha Kampusch hat ein TV-Interview gegeben, um möglichen Spekulationen ein Ende zu machen – was den „psychologischen Experten“ egal zu sein scheint

VON BETTINA GAUS

Jeden Werktag um 14.00 Uhr löst die Psychologin Angelika Kallwass auf dem Privatsender Sat.1 mit Laienschauspielern komplexe psychologische Probleme. Sie muss ihre Patienten nicht mehrfach treffen. Für ihre Analyse genügt eine kurze Beobachtung. Innerhalb weniger Minuten steht ihr Urteil fest.

Wer die Sendung bisher für eine Verhöhnung von Menschen mit psychischen Problemen hielt oder wer darin eine Missachtung von Psychologen und Psychiatern sah, ist in den letzten zwei Tagen eines Besseren belehrt worden. Offenbar halten zahlreiche renommierte Gutachter sogar Ferndiagnosen für zulässig und seriös – selbst dann, wenn die Betroffene sich derlei ausdrücklich verbeten hat.

Eigentlich wollte Natascha Kampusch mit ihrem Fernsehinterview, das am Mittwoch bei RTL von mehr als sieben Millionen Zuschauern verfolgt wurde, vor allem erreichen, dass allen Spekulationen über ihre Persönlichkeit und ihre Leidensgeschichte endlich die Nahrung entzogen wird. Die 18-Jährige, der nach acht Jahren der Gefangenschaft die Flucht aus der Gewalt ihres Entführers gelungen war, versuchte einer Belagerung durch die Medien zu entgehen und wollte selbst entscheiden, was sie von sich preisgibt. Da hatte sie jedoch die Rechnung ohne die Programmgestalter gemacht – und ohne deren willfährige Helfer: die omnipräsenten so genannten Experten. Also dann: Abgang der Hauptdarstellerin. Bühne frei für Profiteure.

„Was zeigt sie von sich jenseits der Worte?“, fragt RTL-Moderatorin Birgit Schrowange unmittelbar nach dem Interview. Fachleute dürfen sich zu Natascha Kampusch äußern, denen Gesten verraten, „was in ihrem Inneren passiert“. Günter Hübner, der in der Sondersendung als „Experte für Körpersprache“ vorgestellt wird, stellt emotionale Hemmungen fest: „Sie kann’s noch nicht fließen lassen.“ Aber er ist dennoch zuversichtlich: „Sie ist schon wieder auf den Beinen.“

Der Polizeipsychologe Professor Adolf Gallwitz warnt allerdings: „Natürlich muss man damit rechnen, dass sie in einigen Wochen oder Monaten einen Zusammenbruch bekommt.“ Noch pessimistischer äußert sich gleich danach bei „Stern TV“ Isabella Heuser, Professorin für Jugendpsychiatrie: „Es wird noch dicke kommen.“ Aber sie hält dennoch Trost parat für Vater Ludwig Koch, der ebenfalls den Weg ins Fernsehstudio zu Günther Jauch gefunden hat: „Ihre Tochter ist auch so beeindruckend, dass jeder fasziniert ist davon.“

Natascha Kampusch bekommt von den Fachleuten gute Noten: „Eine starke Persönlichkeit, meinen die Experten“, so RTL. Ein bisschen Kritik muss sie sich allerdings gefallen lassen. Der Jugendpsychologe Dr. Wolfgang Bergmann entdeckt kindliche Gesten im Interview und befindet gestern morgen in der RTL-Nachlese um „Punkt Neun“, dass „Frau und Kind“ in Natascha „noch zusammenkommen“ müssten. Auch meint er, die Haltung der jungen Frau sei „ein bisschen eine auswendig gelernte Stärke“. Das ist jedoch offenbar kein Grund zu ernsthafter Sorge: „Ganz offensichtlich hat sie die Chance auf ein Lebensglück wie alle anderen auch.“

Nicht nur die Privatsender lassen urteilen. Im ARD-Morgenmagazin verlegt sich der Psychologe Christian Lüdke auf die Täteranalyse: „Eine absolute Bestie.“ Lüdke ist jetzt ein gefragter Mann. Auch die Nachrichtenagentur AFP hat mit ihm gesprochen. Ihr hat er gesagt, dass er Natascha Kampusch „aus therapeutischer Sicht“ von dem Fernsehinterview „dringend abgeraten“ hätte. Es sei zu früh gekommen. Als verfrüht kritisierte auch Kriminalpsychologe Gallwitz das Interview. Es diene in keiner Weise dem Wohl der 18-Jährigen, sagte er gestern in einem dpa-Gespräch. Im Unterschied zu seiner Fernanalyse vom Vorabend?

In den Kinderjahren des Fernsehens berichteten TV-Kommissare, dass sie gelegentlich auf der Straße von Passanten gebeten würden, doch endlich schärfer gegen Kriminelle vorzugehen. Inzwischen scheinen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität nicht mehr allein für das Publikum zu verschwinden. Sondern auch für die Protagonisten. Der Respekt vor der Privatsphäre von Natascha Kampusch und vor ihrer Autonomie ist nicht größer als die Achtung, die Seriendarstellern in ihren Rollen entgegengebracht wird. Die 18-Jährige wird begutachtet, als handele es sich bei ihrem Leben um ein Experiment im Labor.

Wessen Schuld ist das? Gewiss die eines voyeuristischen Publikums. Es ist auch die Schuld ruhmsüchtiger „Experten“. In erster Linie aber bedeutet es das Versagen der Medien und den Verlust journalistischer Standards. Zu denen eben auch die Fähigkeit gehört zu entscheiden, wann Schweigen die einzig angemessene Form der Reaktion auf Ereignisse ist.

Diese Standards werden sich nicht leicht zurückerobern lassen. Nicht zuletzt deshalb, weil nun jede publizistische Auseinandersetzung mit der medialen Verletzung der Persönlichkeitsrechte von Natascha Kampusch der Geschichte dieser Verletzung unausweichlich ein weiteres Kapitel hinzufügt. Das gilt auch für diesen Artikel.