Trauer und Erotik

VIELFALT Der Facetten jüdischen Lebens haben sich drei Künstlerinnen angenommen. Zu sehen sind die Ergebnisse jetzt in einer Ausstellung in Oldenburg

VON KONSTANTIN WENZEL

In der Dunkelheit erklingt eine Kinderstimme. Sie wiederholt immer die gleichen Worte, in einer fremden Sprache. Es ist Hebräisch, die Sprache der Bibel. Ein Gebet wird aufgesagt – beziehungsweise der Versuch dazu unternommen: Die Stimme holpert, gerät ins Stocken. Dann erscheint im warmen Halblicht ein etwa zehnjähriger Junge. Unruhig wippt er hin und her. Die Kamera beobachtet ihn beim Auswendiglernen eines Gebets. In seinen Augen ist Unbehagen, er scheint sich zu quälen mit den ungewohnten Klängen, die noch nicht zu ihm gehören wollen und doch einmal Teil seiner Identität werden sollen: seiner jüdischen Identität.

Die Szene stammt aus dem Video „And The Word Was God“ der englischen Künstlerin Lydia Goldblatt und ist ab nächster Woche in Oldenburg zusammen mit Arbeiten von zwei weiteren jüdischen Fotografinnen aus Usbekistan und Israel zu sehen. Was diese drei Frauen in ihrer Kunst verarbeiten – und wie –, das deutet hin auf komplexe Biografien: Goldblatts Vater etwa, als Sohn litauischer Juden in Südafrika geboren, war Psychiater in London. In der berührenden Fotoserie „Still here“ zeigt seine Tochter ihn im Sterben liegend.

Auf einem Foto winkt er uns von seinem Bett aus zu, mit dem warmen, milden Blick eines Menschen, der mit sich und der Welt seinen Frieden gemacht haben. Zugleich hat seine Geste etwas Triumphales an sich: Der Vater der Künstlerin steht mit seinem lebendigen Körper so sehr wie mit seiner Vita für das Überleben. In der intimen Aufnahme seiner Tochter wird er zum Sinnbild für das Überleben des jüdischen Volkes.

Ein älterer Mann auch auf einem Porträtfoto von Alexandra Polina: Barfuß, mit viel zu großem Jackett, umgeben von schwarzen Schuhen, steht er in der Geradlinigkeit einer – vielleicht typisch deutschen – Betonlandschaft. So gar nicht triumphal wirkt auch, vor einer grauen Mauer, die ältere Frau im schwarzen Abendkleid, deren Schleier wie gezeichnet im Raum zu schweben scheint. Etwas Rätselhaftes haben diese Bilder, Polinas Protagonisten wirken wie Gestrandete, wie Fremdkörper in ihrer Umgebung.

In der Tat hat Polina Menschen porträtiert, die im Alter ihre Heimat verlassen haben. Es sind sogenannte Kontingentflüchtlinge: Juden, die in der (damaligen) UdSSR sozialisiert wurden und nach 1991 nach Deutschland auswandern konnten. „Mich interessierte diese Identitätsveränderung und die damit verbundene Frage, wie viel man aus einer Gesellschaft mitnimmt“, sagt die selbst in Usbekistan geborene Polina. „Beim Umsiedeln im hohen Alter werden ältere Migrantinnen und Migranten mit vielen neuen Erkenntnissen konfrontiert, vor allem mit dem Bruch der eigenen, fest ausgeprägten Lebensweise. Sie schaffen es nur selten, sich in das neue Leben einzufügen. Dies betrifft die Protagonisten meiner Bilder besonders.“

Einen ganz anderen Hintergrund weist die in Israel in einer orthodoxen Familie aufgewachsene Lea Golda Holterman auf. Überraschend sind ihre zwei großformatigen Fotografien aus der Reihe „Orthodox Eros“: In fast barocker Inszenierung porträtiert Holterman Talmud-Schüler – in lasziven Posen. Die jungen, ultraorthodoxen Männer kombinieren in den Aufnahmen ihre traditionellen Gebetsutensilien mit ihren nackten Körpern.

Orthodoxie und Erotik stellen für die in Berlin lebende Israelin nicht zwangsläufig einen Widerspruch dar. Sie weist darauf hin, dass es in der jüdischen Mythologie eine starke Verbindung zwischen Intimität und religiösen Praktiken gibt. Gemäß diesen Vorstellungen erreicht ein Mensch, der im Gebet Intimität mit sich selbst erreicht, sie auch mit Gott.

Realisiert worden ist die Ausstellung im „Schlauen Haus“ vom Abschlussjahrgang des Masterstudiengangs Museum und Ausstellung der Oldenburger Universität. Den 14 Studierenden war es wichtig, der Ausstellung einen partizipativen Charakter zu verleihen. So wurde Oldenburgs Jüdische Gemeinde, die seit 1991 existiert und zirka 300 Mitglieder hat, in die Planung einbezogen. Die Besucher können sich mit einem eigenen Textbeitrag einbringen: In bereitgestellten Boxen finden sie, neben Texten zur Ausstellung, auch die Möglichkeit, eigene Kommentare und Notizen zu hinterlassen. Die Idee: Es soll keine hierarchische Unterscheidung geben zwischen den Texten der Kuratorinnen und denen des Publikums. Im Begleitprogramm bietet die Ausstellung unter anderem dialogische Führungen und einen Stadtrundgang zum jüdischen Leben in Oldenburg, sodass das Projekt eine Annäherung an jüdische Identitäten und wie sie sich heute gestalten können anregt.

■ „Fotografie! Jüdisch?“; Eröffnung: 17. März, 19.30 Uhr, Oldenburg, Schlaues Haus; bis 29. März