Boom, Pleite, Boris

AUS RIBNITZ-DAMGARTEN GEORG LÖWISCH
UND FRANK HORMANN (FOTOS)

Spitze und Schlusslicht. „Ist das der Boris Becker?“ Sven Jenssen stellt die Frage wie die Urlauber, die manchmal zu ihm ins Autohaus kommen. Die Betonung liegt auf dem „der“ und am Ende steht ein unschlüssiges Staunen. Im „der“ stecken der Wimbledon-Triumph gegen Ivan Lendl, das Tennisfieber in Deutschland und die Schönheit von Barbara Becker. In dem Staunen steckt die Frage, wie das alles hierher passt ins Gewerbegebiet von Ribnitz-Damgarten im Land Mecklenburg-Vorpommern, das dauernd Schlusslicht ist auf deutschen Ranglisten. „Ist das der Boris Becker?“ – „Ja, selbstverständlich“, sagt Sven Jenssen, es klingt wie ein lockerer Volley.

Draußen steht „Autohaus Boris Becker“ auf einem Schild. Im Wind wehen sechs Mercedes-Fahnen. „Es wird manchmal ein Foto gemacht. Wir haben ab und zu auch Autogrammkarten. Wenn Boris hier in der Ecke ist, rutscht er schnell mal rüber.“ Jenssen zeigt ein metallicblaues Cabrio, das zwischen den anderen Mercedes-Modellen steht. Die Hochzeitskutsche von Boris und Babs.

Jenssen, 47, Schnauzer, klares Norddeutsch, leitet eines von Beckers drei Autohäusern. Früher hat er bei Ostseetrans gearbeitet, dem volkseigenen Verkehrsbetrieb. Er hat Busse repariert, Taxis und Fahrschulwagen. Nach der Wende stellte der Tennismillionär Mitarbeiter von Ostseetrans ein und bekam von Mercedes das Verkaufsgebiet Vorpommern. „Mercedes Benz und dann noch Boris Becker“, sagt Jenssen, „die Kombination war schon anspruchsvoll.“

1994 war Eröffnung. Familie Becker kam in die 17.000 Einwohner große Stadt. Vater Karl-Heinz hat alle angespornt. Jenssen sagt, er wirkte sehr bodenständig. „Boris war eher Weltenbürger von der Sache her.“

Zur Kundschaft gehören Hoteliers von der Halbinsel Darß, allerdings auch Angestellte, die sich einen A-Klasse-Wagen kaufen. Jenssen fährt selbst Mercedes. Ums Handgelenk trägt er eine Schweizer Uhr. Aber auch im Armani-Anzug sähe er noch aus wie der Ingenieur von Ostseetrans, der gern an Motoren schraubt.

Jenssen ist zufrieden. Ihm, seinen Kollegen und den Kunden geht es gut. Besser, als es die meisten Deutschen in Mecklenburg-Vorpommern vermuten würden. Gerade das findet man in Ribnitz-Damgarten, ein paar Tage vor der Landtagswahl: Man kann sehen, dass der Nordosten mehr ist als Bummelletzter und Abwanderung und NPD. Die Stadt ist mehr als das. Das fängt schon bei den regionalen Spitzfindigkeiten an: Die Ribnitzer sind Mecklenburger, die Damgartener Vorpommern, der Fluss Recknitz trennt die Landesteile. Es geht weiter bei dem Gegensatz zwischen Menschen, die sich einen Mercedes anschaffen und anderen, die für abgelaufene Lebensmittel anstehen. Es gibt Auswanderer und Einwanderer, und manchmal wandern die Einwanderer wieder aus. Es gibt Menschen, die nie mehr Arbeit finden werden, andere, die sich nach der Wende prima auf die neue Zeit eingestellt haben, und wieder andere, die sich gar nicht verändert haben.

Ost und West. Angelika Brammer hat sich verändert. Sie versteht die nicht, die sich nicht verändert haben. Die ihre Ferienwohnungen immer noch mit durchgesessenen Plüschsofas vermieten. Die nicht kapieren, dass sich die Touristen im Internet die Zimmer angucken wollen. Die einfach nicht lernen, was ein Geschäft ist. Ihr Ex-Mann war auch so. Sie sagt: „Er hat die Kurve nicht gekriegt.“

Damals, 1985, sind sie zusammen aus Dresden nach Ribnitz gegangen. Die Familie ihres Mannes hatte ein murkeliges Reetdachhaus mit niedrigem Eingang. Die Villa Bück-Dich. Im Gastraum gab es 35 Plätze, sie waren das ganze Jahr ausgebucht. Die Brigaden vom Faserplattenwerk feierten dort, Frauentag, 1. Mai, Republikgeburtstag. Das Werk war riesig, und es gab immer Anlässe. „Wenn ich die Leute heute sehe, die bei uns gefeiert haben. Die stehen mit dem Aldibeutel in der Schlange und wollen kostenloses Essen.“ Angelika Brammer rümpft die Nase. Heute früh ist sie wieder da vorbeigefahren. „Der eine hat’s doch gar nicht nötig, so fett wie der ist.“

Die Villa Bück-Dich ist jetzt eins von neun Ferienhäusern der Brammers. Gehobene Vollausstattung, Sauna, Wasserski 500 Meter. Angelika Brammer hat einen neuen Mann. Einen Handballer mit riesigen Händen. Er ist Architekt und hat die Sanierung der Häuser geleitet. Er gehört zu den Westdeutschen, die vom wilden Osten der Wendezeit schwärmen und die sich in die DDR eingefuchst haben. „Damals hat ja niemand Trabbi gesagt“, erklärt er „Das hieß Trabant.“ Er lächelt, als habe er selbst 15 Jahre auf einen gewartet. Jetzt fährt er einen Geländewagen und seine Frau einen silbernen Flitzer von Mercedes.

Sie sitzen nebeneinander am Gartentisch, der 1,95 Meter große Handballer aus dem Westen und die gebräunte Dunkelhaarige aus Sachsen. Volkmar Brammer erklärt die DDR, Angelika Brammer erklärt die Marktwirtschaft.

Mangel und Überfluss. Karl-Heinz Timm schaut auf die Uhr. Dreiviertel neun. „In die Startlöcher, Leute!“ Sie machen sich bereit, hinten im gekachelten Wirtschaftsraum der ehemaligen Fleischerei. In Körben sind Saftkartons aufgeschichtet, eingeschweißte Wurststücke, Packungen mit Pizza. Bei fast allem ist das eingestanzte Datum abgelaufen. „Mindesthaltbarkeitsdatum“, brummt Timm. „Eine Erfindung der Hersteller, um die Regale leer zu kriegen.“

Timm ist ein schwerer Mann mit rotblonden Haaren und rotblondem Schnurrbart. Früher Ingenieur bei der Marine, dann Bauleiter, heute auf ABM. Er ist 54 Jahre alt, da glaubt er nicht, dass er noch mal einen Job auf dem Markt findet. „Wo Mecklenburg-Vorpommern so boomt“, schiebt er ironisch nach.

Die Tür zur Rostocker Straße wird aufgeschlossen. Seit 8 Uhr hat sich eine Schlange von über 25 Leuten gebildet. Jeder legt eine Berechtigungskarte vor, zahlt einen Euro Unkostenbeitrag und gibt seinen Einkaufsbeutel ab. Der Beutel wandert in den Wirtschaftsraum und Timms Leute packen ein Warensortiment ein. Zack, zack geht das. Am Ende werden 170 Beutel gefüllt sein.

Eine Mutter mit Kinderwagen dankt für die Packung Schokoküsse. Eine alte Dame mit Dauerwelle prüft den Inhalt ihres Beutels. Eine Frau mit Strickjacke ist zum ersten Mal da. Sie lächelt verlegen. „Ist nichts Ehrenrühriges, wenn man hierherkommt“, ruft Timm ihr zu.

Timm und die anderen haben das Essen mit ihrem umgebauten Feuerwehrbarkas bei den Kaufhallen der Gegend abgeholt. Manchmal ist es mühsam, genug ranzuschaffen. „In Amerika gibt es Lebensmittelbanken mit Waren aus der Überproduktion“, sagt Timm. „Das wäre was!“ Gerade ist ein junger Mann dran, sportliche Figur, Jeans, Joggingschuhe. Er hat den Unkostenbeitrag schon in der Hand, ein Euro in Centstücken abgezählt. Er legt das Geld auf den Tisch. Seine Hand zittert.

Boom und Pleite. Der Plan, der Ribnitz-Damgarten veränderte, trug einen raffinierten Namen: „Überholen ohne einzuholen“. 1970 schwante den Männern im SED-Politbüro, dass das westdeutsche Wirtschaftswunder sie abgehängt hatte. Sie haben trotzig gesagt: Wir wollen uns doch gar nicht mit denen messen. Aber besser sein natürlich schon. Es wurden fünf große Überholprojekte beschlossen. Eines war das Faserplattenwerk in Ribnitz-Damgarten. Dort gab es schon ein Werk für Möbelplatten. Gut war der Standort nicht. Es gab kaum Holz in der Gegend und auch keinen Hafenanschluss. Aber zwischen Stralsund und Rostock klaffte eine industrielle Lücke. Es wurde eine Plattenanlage aus Schweden gekauft und eine Möbelanlage aus der BRD. Aus der ganzen DDR zogen Fachkräfte in die Stadt.

Sigrid Keler kam 1971 aus dem Süden, von den chemischen Werken Buna. Sie wurde Büroleiterin des Direktors, ihr Mann Justiziar. Mit der gerade geborenen Tochter zogen sie in einen der Plattenbauten, die plötzlich die niedlichen Häuser von Ribnitz überragten. 6 Uhr 30 auf Arbeit, vorher noch die 50 Meter zur Krippe und von dort ein Stück die Straße runter zum Werkstor. Nach Dienstschluss um 16 Uhr holte sie die Tochter und später auch den Sohn ab, ihr Mann hat solange den Picknickkorb gepackt. 17 Uhr lagen sie am Strand.

So glücklich waren viele der fast 2.000 Beschäftigten. Das Werk fuhr ein Vierschichtsystem, 24 Stunden. Die Alt-Ribnitzer beneideten die Neuen um ihre Fernwärmeheizungen. Das Werk nannten sie Fusselbude, denn wenn der Wind von der Ostsee nicht stark genug blies, hing Faserstaub in der Luft. Im Bodden schwammen tote Fische.

Als Wende und Währungsunion kamen, konnten sich die Russen und Polen und Ungarn die Plattenmöbel und Möbelplatten aus der DDR nicht mehr leisten. „Die Nachfrage ist 1990 innerhalb von drei Monaten platt gewesen“, sagt Sigrid Keler.

Sie sitzt in ihrem Büro in Ribnitz, es ist ein SPD-Büro. Sie hat 1990 in der Stadt die Ost-SPD mitgegründet und beim Werk gekündigt. Sie kam in den Landtag, und jetzt ist sie Finanzministerin. Keler ist 64. Sie wohnt in einem Haus auf dem Darß und segelt gerne. Aber sie will noch ein paar Jahre weitermachen. Bis 2009 will sie die Neuverschuldung auf null drücken. Keler pocht auf den Tisch wie eine Vereinskassiererin. Ihre Zahlen sind nicht schlecht. Bei der Pro-Kopf-Verschuldung liegt Mecklenburg-Vorpommern nicht hinten auf der deutschen Rangliste. Sondern genau in der Mitte.

Das Faserplattenwerk kaufte ein Hamburger Unternehmer und nannte es Bestwood. Bestes Holz. Die Bushaltestelle vor der Ruine heißt immer noch so. Das Land zahlte und zahlte, der Investor kassierte und meckerte. Sigrid Keler hat ziemlich früh vor ihm gewarnt, die damaligen Minister haben ziemlich lang subventioniert. 1996 wurde die Produktion eingestellt.

Einwandern und Auswandern. Paul Klimowski rutscht in seinem Stuhl auf dem Polizeirevier herum. Der 16-Jährige mit den kräftigen Schultern hat nichts ausgefressen. Im Gegenteil. Polizeihauptmeister Hans-Dieter Konkol hat ihn eingeladen. Damit er etwas aus Jugendsicht sagt über den Polizeisportverein (PSV), wenn sich die Zeitung schon interessiert. Konkol leitet die Karateabteilung. Die Rolle als Musterschüler ist Paul ein bisschen unangenehm, aber andererseits war er ja viermal Landesmeister im Karate. Konkol lehnt auf der Schreibtischkante und motiviert. Die meisten Sätze beginnt er mit „wir“. „Wir wollen lieber Sport treiben, als dass es zu Gewalt auf der Straße kommt.“ „Wir zahlen drei Euro Beitrag im Monat.“ „Wir wollen das ganze Feld mitnehmen.“

Zum Feld gehören die Einwanderer aus der früheren Sowjetunion. Es wohnen einige in Ribnitz-Damgarten. Die Klimowskis kamen 1996 aus Tadschikistan. Paul war sechs Jahre alt und sprach kein Deutsch. „Die erste Zeit war total schlimm“, sagt er. Sein Bruder ging als Erster zum Karate, später Paul. Die Familie zog von der Platte in ein Häuschen, die Mutter wurde Verkäuferin, der Vater Koch. „Mir gefällt es hier“, sagt Paul. Konkol nickt.

Nächstes Jahr macht Paul die Mittlere Reife. Die Wahrscheinlichkeit, dass er die Stadt wieder verlassen wird, ist hoch. Der PSV, sagt Konkol, verliert viele Aktive, wenn sie 17 werden. „Da brechen die meisten weg.“ Ja, und die Polizei? Konkol zählt umgehend auf, wie der Aufnahmetest aussieht. Sportprüfung, Psychotest, Diktat. Ein Polizeipraktikum hat Paul schon gemacht. „Wer sich ausreichend auf den Test vorbereitet, kann es schaffen“, sagt Konkol. Vielleicht gibt es ja doch eine Chance, dass dieser Junge bleibt. Dass wenigstens einer bleibt.