Labyrinth der Widersprüche

SCHLAGLOCH VON SARAH ELTANTAWI Der General, der Polizist und meine Freundin – drei Blicke auf Ägypten

■ ist Assistenzprofessorin für Vergleichende Religionswissenschaften am Evergreen State College. Derzeit setzt sie ihre Forschung beim Berliner Forum „Transregionale Studien“ fort.

General Mustafa Gamal kämpfte 1973 in der ägyptischen Luftwaffe gegen Israel. 2011 demonstrierte er gegen Mubarak auf dem Tahrirplatz, obwohl sein Sohn Yusuf, ein Arzt, die Sache aussitzen wollte. Gamal aber hatte genug vom Regime: „Das war einfach zu viel der Korruption. Mit der Idee, die Macht an seinen Sohn weiterzugeben, hat Mubarak die Rote Linie überschritten.“ Die Gründe, warum Tausende auf den Tahrirplatz strömen, waren natürlich vielfältiger. Sei’s drum.

Heute ist Gamal begeistert von der Erzählung, dass General Sisi das Land „gerettet habe“. Er glaubt fest daran, dass Ägypten allein von Militärs noch auf den rechten Weg zurückgeführt werden könne. „Ich weiß nicht, welche ausländischen Zeitungen Sie lesen, und es ist mir auch egal. Aber dieses Land liebt seine Armee leidenschaftlich.“ Für den General sind Schutz und Ordnung untrennbar mit dem Patriarchat verbunden. „Die Ägypterinnen fordern, dass ihre Männer sie kontrollieren“, verkündet er. Das Weltbild der Militärs ist bekannt.

Aus Sicht eines Polizisten

Khaled, der Polizist, hat das Massaker vom 14. August bei der Moschee Raba’a miterlebt. Just als er seinen Kopf auf die Schreibtischplatte sinken ließ, um ein kleines Nickerchen zu machen, wurde er von Schüssen aufgeschreckt. Zwanzig Menschen verbluten direkt vor seinen Augen.

Wir beide fuhren vor zwei Wochen an einem ruhigen Abend die Gegend um die Moschee ab. Es waren die Anwohner, so sagt man heute, die die Nase von all den Sit-ins der Muslimbrüder voll hatten. Daher hätten sie die Sache selbst in die Hand genommen und auf die Mursi-Anhänger geschossen.

Wenn schon er zwanzig Menschen habe sterben sehen, dann, so rechnet Khaled hoch, dürften insgesamt zwischen 200 und 300 getötet worden sein (Menschenrechtsgruppen gehen von 1.000 aus, die Muslimbrüder von noch viel mehr), aber Genaues wisse niemand. Gleich darauf vertraut er mir an, dass ihm seine Cousins, kurz bevor es losging, gesteckt hätten: „Es werden mindestens 1.000 oder 1.500 Leute sterben. Das geht in Ordnung. Die Sympathien der Ägypter und der Welt sind ja auf unserer Seite.“ Zum Beweis schickte er mir seinen Facebook-Eintrag, in dem er damals seine Cousins zitierte.

Khaled spricht von den Ereignissen in einem neutralen bis depressiven Ton. Er gehört zu den Leuten, die felsenfest davon überzeugt sind, dass die Polizei nicht lügt, und wissen, was das Beste ist für das Land. Doch das macht ihn noch lange nicht zum auftrumpfenden Besserwisser. „Ich habe ihn nicht gewählt“, fährt er fort, „aber als Mursi ins Amt kam, hatte ich nichts dagegen. Gar nicht. Wir alle wollten, dass sein Reformprogramm funktioniert. Doch dann verging die Zeit – und nichts passierte. Die Muslimbrüder haben sich nur darum gekümmert, dass ihre Leute auf die entsprechenden Posten kommen. Und sonst um gar nichts. Sie haben uns Militäranhänger respektlos behandelt, aber auch das gesamte Land.“

Khaled findet nicht, dass mit der Rückkehr der Militärs an die Macht wieder alles gut wäre. Wenn er aufs Dorf zu seinen Verwandten fahre, müsse er manchmal tatsächlich weinen. Die Geschwindigkeit, mit der das Land verscherbelt werde, damit irgendwelche Billighäuser darauf gebaut werden – sie sei unglaublich! Ich war erstaunt, wie hemmungslos er mir von seinen Tränen erzählte. Doch eigentlich begegne ich öfter dieser Offenheit ägyptischer Männer.

„Niemand soll sterben, die Mursi-Anhänger genauso wenig wie meine Freunde oder Polizeioffiziere.“ Auf seine Weise ist Khaled Humanist. „Nun bleibt uns nur noch, für ihre Seelen zu beten – und weiterzumachen. Alle Seiten müssen endlich Verantwortung übernehmen: Dabei helfe uns Gott.“ Seine Konzentration gilt nun ganz dem Verkehr.

Schafe suchen sich ihr Futter im Müll und werden von verschleierten Frauen von Haufen zu Haufen gescheucht. Ich laufe mit einer amerikanisch-ägyptischen Freundin durch einen Kairoer Slum. Meine Freundin lebt schon seit ein paar Jahren in der Stadt und war bei den großen Demonstrationen auf dem Tahrirplatz sehr aktiv.

Man müsse zwischen den diversen Anhängern der Revolution unterscheiden, klärt sie mich auf. Da sei einmal die englischsprachige Journalisten-Truppe, die total desillusioniert ist. Die meisten Arabisch sprechenden Leute indessen leisten sich diese Art von Pessimismus nicht. Sie haben ja die Molotowcocktails geschmissen und die Gewalt des Militärs ertragen müssen. Die Revolution für tot zu erklären kommt ihnen unfair und billig vor. Sie nehmen das nicht auf die leichte Schulter.

Meine Freundin sagt: „Aber wir leben in einem faschistischen Staat.“ Und schon verheddern wir uns wieder

Spinat und Katzenfutter

Eine der zentralen Differenzen zwischen den beiden Gruppen hat mit dem Timing der Kritik am gegenwärtigen Militärregime zu tun. Der arabischsprachige Teil weiß intuitiv, dass man jetzt kein Öl ins Feuer gießen sollte. Ich stimme ihnen zu und sage daher meiner Freundin: „Was ich nicht verstehe, ist, warum alle, die Mursis Fall vom ersten Tag seiner Regentschaft an wollten, nun am allerlautesten brüllen, unter General Sisi sei Ägypten zu einem faschistischen Staat geworden.“ Meine Freundin antwortet: „Aber wir leben in einem faschistischen Staat.“

Ich denke kurz nach. „Aber in einem, den viele zurückhaben wollten.“ – „Sicher. Aber alle, die dachten, die Armee werde Mursis Absetzung am 30. Juni 2013 für ihre Zwecke instrumentalisieren, und bezeichnen seine Absetzung jetzt als Staatsstreich.“ – „Also bereuen sie Mursis Entmachtung und denken heute, er hätte länger im Amt bleiben sollen?“ – „Überhaupt nicht. Sie finden, er musste gehen.“

Ich fange an, heftig mit den Armen zu rudern und von einem Bein aufs andere zu springen: „Ah, diese ewige Sackgasse. Da ist es wieder, das Bermuda-Dreieck, in das wir ständig hineinstolpern.“ – „Genau“, sagt meine Freundin, und ihre großen Augen sehen mich traurig und amüsiert zugleich an. „Das ist immer der Punkt, an dem ich das Gespräch kopfschüttelnd beende und mich aufmache, Spinat und Katzenfutter einzukaufen.“