Amerika, Blicke

Am Ende aller Gewissheiten und am Anfang der Liebe und der Diskurse: Thomas Hettches Roman „Woraus wir gemacht sind“

von GERRIT BARTELS

Der Titel dieses neuen Romans von Thomas Hettche ist ein vollmundig-vielversprechender: „Woraus wir gemacht sind“, und der Verlag unterstreicht dieses Vollmundig-Vielversprechende noch dadurch, dass er das „Wir“ als größtes der vier Wörtchen auf den Umschlag gesetzt hat. Denn dieses „Wir“ von Thomas Hettche ist kein profanes Generationen-Wir: Hettche, 1964 geboren, hat dankenswerterweise nicht versucht, eine Mentalitätsgeschichte der 35- bis 45-Jährigen zu schreiben. Nein, dieses „Wir“ sind wir alle, nicht gleich die ganze Menschheit, aber doch wir, die wir im Deutschland des 21. Jahrhunderts leben, und die wir nicht nur aus Wasser, Kohlenstoff, Sauerstoff und Stickstoff gemacht sind, sondern möglicherweise aus: Geschichte, gerade der der Dreißiger- und Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts, aus der Beziehung zu Amerika und seiner Popkultur, aus dem Erleben und aus den Folgen des 11. 9. 2001, aus Liebe, aus Gefühlen.

Viel drin also in diesem Roman, zu viel, muss man nach der Lektüre sagen. Nicht zuletzt, weil Hettche seinen Inhalt in eine abstrus-wirre Geschichte gepackt hat; eine Art Thriller, der sich gleichzeitig zu einem Roadmovie entwickelt, ein Thriller, der trotz einiger Kämpfe auf Leben und Tod (am Ende gibt es drei Tote) ganz ohne Spannung auskommt und dessen Rätsels Lösung einem am Ende völlig egal ist.

Niklas Kalf heißt der eigentümliche Held dieser abstrusen Geschichte. Kalf lebt davon, Biografien zu schreiben, und er ist das erste Mal in Amerika, natürlich genau zum ersten Jahrestag von Nine-Eleven. Angereist ist er mit seiner schwangeren Frau Liz, um hier zuerst in New York im Goethe-Haus zu lesen und später für eine Biografie über den toten deutschen Emigranten, Hitler-Flüchtling und Physiker Eugen Meerkaz zu recherchieren. Gleich in der ersten New Yorker Nacht wird seine Ehefrau entführt und ihm daraufhin von Entführerseite wie auch von der seiner New Yorker Bekannten geraten, sich nicht zu rühren, nicht zur Polizei zu gehen und auf weitere Informationen zu warten, alles andere ergebe sich. Kalf folgt dem brav, bisweilen „reibt er sich wund an seiner Unfähigkeit zu handeln“, und im Folgenden gerät er, alles andere als intensiv auf der Suche nach seiner Frau, immer weiter ins Innere von Amerika, vor allem in das texanische Nest Marfa.

Thomas Hettche gelingen feine atmosphärische Momentaufnahmen, insbesondere Landschaftsbilder, beginnend von Kalfs Ankunft in New York (wiewohl man manchmal den Eindruck hat, als baue Hettche hier seine erste Goethe-Haus-Lesung literarisch eins zu eins nach), dann gerade von dem texanischen Städtchen und seiner Umgebung und später auch von L. A. Ganz sanft schnurrt diese Prosa vor sich hin, oft eine Idee zu schön, manchmal nah am Kitsch. Die Handlungsabstrusitäten fallen da zunächst gar nicht richtig auf und trotz früher Hinweise wie Ovid-Zitate oder einer Fernsehansprache von George W. Bush als Hintergrundrauschen bemerkt man erst spät, dass der Leser die merkwürdige Aufgabe bekommt, diesen Roman von seiner Geschichte befreien, sie nachgerade ignorieren zu müssen, um zu seinem Kern, seinem Wesen zu gelangen.

Dieses Wesen, das bedeutet, „die Mitte des Diskurses“ zu suchen, so wie es Thomas Hettche als Streiter für den letztes Jahr so gern belächelten Relevanten Realismus (meinte so was wie Gegenwartsnähe plus Kunstwollen) in einem FAZ-Text gefordert hat: „Es ist an uns, endlich die leere Mitte zu besetzen. Mit unseren Romanen und mit uns selbst.“ Mit aller Macht rein in die Gegenwart, mit aller Macht die Macht erkunden, und zwar im Amerika nach dem 11. 9., in einer Zeit, die von diesem Ereignis bestimmt wird. Auch wenn es dann eben an jedem Romaneckchen knarrt, wenn manches Gespräch immens aufgesetzt wirkt, wenn man praktisch mit dem Holzhammer gesagt bekommt, dass die USA das neue Rom sind, ein möglicherweise zum Untergang verurteiltes Imperium: „Rom ist, daß du mit Geistern schläfst. In jedem Raum, in dem du übernachtest. Und bei jeder Frau, die du küßt.“

Ja, und Hettches Roman ist, dass man im Verlauf mit Niklas Kalf das Wissen darum verlieren soll, „woraus wir gemacht sind“: „Hatte er nicht, seit er in diesem Land war, alles verloren, von dem er gedacht hatte, es mache ihn aus? Jede Gewißheit und (…) auch alle Zukunft?“ Nur glaubt man Kalf nicht, seinem Sich-treiben-Lassen, seinen Verlusten, glaubt man Hettche seine Story nicht, in der er seine Diskurse transportiert. Und selbst dort, wo die Liebe als letzte Rettung ins Spiel kommt, wird sie mehr behauptet als gelebt, gleitet sie ins Zitatistische und Sentenzenhafte ab, in „Liebe ist kein Gefühl“, in „Die Liebe ist das, was uns unter dem leeren Himmel möglich ist“ etc. Dass auch die Liebe am Ende gegengeschnitten wird zu einem bevorstehenden Krieg, zu einer sich total verändernden Welt, versteht sich von allein. Nur der Tauchflug des Pelikans ins Meer, der bleibt für alle Zeiten derselbe. Ächz, ächz.

Thomas Hettche: „Woraus wir gemacht sind“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 320 Seiten, 19,90 Euro