EDITORIAL: Argentinier in Frankfurt
: Literarischer Aufbruch

„Mit der Demokratisierung setzte im Argentinien der 80er Jahre eine Wiederbelebung von Kunst und Kultur ein. Straßentheater, Konzerte und künstlerische Installationen belebten den öffentlichen Raum, und die Straßen füllten sich mit Bürgern, die die wiedergewonnenen Freiheiten genossen“, so Sandra Carreras und Barbara Potthast in ihrer „Kleinen Geschichte Argentiniens“ (erschienen bei Suhrkamp, 2010). Von dieser kulturellen Aufbruchstimmung nach den Jahren der Militärdiktatur (1976–83) kündet dieser Tage auch eine sehr rege Literaturproduktion.

Vor dem Auftritt als Gastland bei der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt am Main hat der argentinische Staat zuletzt 292 Übersetzungen in 31 Sprachen fördern lassen. Das ist außergewöhnlich. Ebenso, dass viele der Werke in gesellschaftskritischer Absicht geschaffen wurden und ausdrücklich Bezug auf die jüngere Geschichte nehmen.

Bis heute ist das Land wegen der Vorgänge während der Diktatur gespalten. Für Schlagzeilen sorgte zuletzt der Streit über die Adoptivkinder von Ernestina Herrera de Noble. Die greise Eignerin der Clarin-Gruppe, des mächtigen Medienimperiums in Argentinien, steht in Verdacht, die Herkunft ihrer während der Diktatur adoptierten Kinder verschleiert zu haben. Sie sollen von damals ermordeten Regimegegnern abstammen. Der Kindesraub ist nur eine der von 1976 bis 1983 praktizierten monströsen Praktiken.

Die Auseinandersetzung mit solchen Menschenrechtsverbrechen ist gerade in der Literatur in vollem Gange, auch wenn sich gute Kunst nicht auf politische Themen reduzieren lassen sollte. Einige der spannenden argentinischen AutorInnen haben wir Ihnen bereits im Vorfeld der Messe in der taz vorgestellt, einige können sie in dieser Beilage entdecken – und darüber hinaus natürlich auch jede Menge anderer internationaler und deutscher Literaturproduktionen.

Die deutsch-argentinischen Beziehungen waren immer von großen Ambivalenzen geprägt. Peróns Kriegserklärung an Nazi-Deutschland erfolgte erst ganz zum Schluss des Zweiten Weltkriegs, war eine Alibiveranstaltung. Doch Argentinien ließ auch jüdische oder sozialistische deutsche Flüchtlinge ins Land. Es war für sie genauso Zufluchtsstätte, Neue Welt, wie für eine größere Gruppe deutscher (Spitzen-)Nazis nach 1945, „unter ihnen Schlüsselfiguren des nationalsozialistischen Terrors wie Adolf Eichmann, Joseph Mengele, Erich Priebke oder Klaus Barbie“, wie auch die Suhrkamp-Historikerinnen Carreras und Potthast schreiben.

Antisemitismus als Doktrin spielte für die letzte Militärdiktatur in den 1970ern eine Rolle. Der Berliner Anwalt Wolfgang Kaleck hat im Zusammenhang mit deutsch-jüdischen Diktaturopfern in Argentinien (zusammen mit der „Koalition gegen Straflosigkeit“) recherchiert und auch Fälle in Deutschland zur Anzeige gebracht. Sein Buch stellt die taz auf einer Veranstaltung im Rahmen der Messe am Freitag in Frankfurt (Haus am Dom, 18.30 Uhr) vor.

Der argentinische Fotokünstler Alberto Goldenstein, geboren 1951 in Buenos Aires, steuert mit der Serie „Mar del Plata“ die Bilder für diese Ausgabe bei. Mar del Plata ist der argentinische Badeort schlechthin, „eine prachtvolle Stadt mit sachlicher, solider Architektur“, wie Goldenstein sagt. Auch dieser Ort muss sich nach 2001, der wirtschaftlichen und politischen Krise Argentiniens, als Goldensteins Bilder entstanden, neu finden. ANDREAS FANIZADEH