Editorial

Schätzungen zufolge verlässt jede Minute eine Syrerin oder ein Syrer das Land, um anderswo Schutz zu finden. Das sind pro Tag 1.440 Personen. Die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge sucht Sicherheit in den Nachbarstaaten Syriens.

Von diesen hat der Libanon mit 974.434 beim UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) registrierten Personen inzwischen die meisten Menschen aufgenommen. Dabei beläuft sich die Einwohnerzahl des Zedernstaats auf etwa 5,8 Millionen. Hinzu kommt, dass der Libanon seine eigene Geschichte schiitisch-sunnitischer Spannungen hat, die in der Stadt Tripolis mehrfach zu bewaffneten Auseinandersetzungen geführt haben.

Demgegenüber tut sich das wohlhabende Deutschland mit 80,8 Millionen Einwohnern schwer mit der Aufnahme von Syrern in Not. Nur auf gesellschaftlichen Druck hin zeigte sich die Regierung bereit, ihre ursprüngliche Zusage für die Aufnahme von 5.000 Flüchtlingen häppchenweise zu erhöhen. Bis heute wurde wegen bürokratischer Hürden nicht einmal das erste Kontingent ausgeschöpft.

Vor diesem Hintergrund veröffentlicht die taz heute einen sechsseitigen Schwerpunkt zum Thema deutsche Flüchtlingspolitik. Dabei war es uns wichtig, dass vor allem jene zu Wort kommen, die aus Syrien den Weg zu uns gefunden haben.

Nach Deutschland bringen sie vielfältige Erfahrungen und natürlich auch wertvolles Wissen mit – von anderen Kulturen und in Sachen Krisenmanagement. Die einen hoffen darauf, künftig wieder in ihrem Beruf arbeiten zu können, etwa als Apotheker, andere möchten ihr Studium abschließen, und die Jüngsten sprechen nach neun Monaten im Kindergarten fließend Deutsch. Sie alle sind eine Bereicherung.

Eine ähnliche Situation gab es vor zwanzig Jahren schon einmal, während des Kriegs in Bosnien und Herzegowina. Über 350.000 Flüchtlinge kamen damals nach Deutschland und wurden meist freundlich aufgenommen – darunter 8.000 über die Initiative „Den Krieg überleben“, die erfolgreich private Unterkünfte vermittelte. Es wird nicht offen gesagt, doch eine solche Integration ist genau das, was die Bundesregierung heute unbedingt vermeiden möchte.

CHRISTIAN JAKOB, INES KAPPERT, JUTTA LIETSCH, RICHARD NOEBEL, RÜDIGER ROSSIG, TOBIAS SCHULZE, BEATE SEEL, GESA STEEGER, ULRIKE WINKELMANN