Nadeln im Heuhaufen

PIEKSEN Die Akupunktur hilft Hunden sowie ihren Haltern schon lange – allmählich hält die traditionelle chinesische Heilmethode auch in bäuerlichen Betrieben Einzug

VON SABINE HENSSEN

Nr. 106 schaut ein wenig traurig aus den großen dunklen Augen und lässt den Kopf hängen. Um ihren Hals trägt sie ein breites Band mit Kenn-Nummer und Transponder, der ihr, sobald die Milch im Euter drückt, die Tür zum Melkroboter öffnen wird. Sie steht mit zwei weiteren Kühen separiert von den anderen 247 in einer Box im Stall, zwei dünne Akupunkturnadeln mit kleinem, blauen Plastikgriff ragen nahe der Hüfthöcker aus ihr heraus. Vor etwa sechs Stunden hat die Holsteiner Schwarzbunte gekalbt, unter ihrem Kuhschwanz, der locker hin und her pendelt, ist deutlich die Nachgeburt zu sehen, halb hängt das rötlich-glänzende Gebilde heraus, will nicht von allein abgehen.

Diese sogenannte Nachgeburtsverhaltung kommt bei etwa zehn Prozent der Milchkühe nach dem Kalben vor und gehört zu den Leiden, die Dorit Gieseke-Rohrmann im niedersächsischen Varel mit Akupunktur behandelt. „Mein Vater war zu Anfang doch sehr misstrauisch, ob so ein paar dünne Nadeln etwas bewirken können“, sagt sie. „Überzeugt hat ihn, dass er nicht den Tierarzt rufen musste!“

Denn die Akupunkturbehandlung seiner Tochter bewirkte, dass sich der Uterus der Kuh entspannte und die Nachgeburt ohne Antibotika- und manuellen Einsatz eines Veterinärmediziners abging. „Ich lernte eine Tierärztin kennen, die nur noch alternativ, vorwiegend mit Akupunktur behandelt“, erzählt Dorit Gieseke-Rohrmann, „und wollte es selbst erlernen.“ Gemeinsam mit ihrem Bruder absolvierte sie einen Intensivkurs, „direkt an den Kühen auf unserem elterlichen Betrieb“. Seit einem Jahr behandelt die Diplom-Agraringenieurin, die sich nach dem Studium zur Milchviehspezialberaterin weiterbildete, einmal wöchentlich im elterlichen Betrieb die Milchkühe, setzt Nadeln gegen Fruchtbarkeitsstörungen oder Euterentzündungen, auch Lungenprobleme oder Störungen des Bewegungsapparats und Malaisen an den Klauen behandelt sie. „Akupunktur wirkt sehr schnell, mit sichtbaren Erfolgen“, sagt die 39-Jährige.

Das Qi muss fließen

Das Prinzip der Tierakupunktur basiert auf der Akupunktur-Lehre, die auch beim Menschen angewendet wird: Das Teilgebiet der Traditionellen Chinesischen Medizin beruht auf Quellen, die über 2.000 Jahre alt sind und beschreibt Meridiane, Leitbahnen, die den Körper durchziehen. In ihnen fließt Energie, das Qi, so die Vorstellung. Ist der Energiefluss gestört, können gesundheitliche Probleme entstehen. Über die Akupunkturpunkte – die Stellen am Körper, an welchen die Meridiane zugänglich sind – kann der Qi-Fluss stimuliert und reguliert werden.

Auch Susanne Hauswirth aus Börm nahe Schleswig bildet LandwirtInnen aus, Nadeln zu setzen, „Hilfe zur Selbsthilfe“, wie sie sagt. „Die Rinderakupunktur ist eher eine deutsche als eine chinesische Erfindung“, erklärt die Veterinärmedizinerin. „Sie geht zurück auf Dr. Kothbauer, der sie in den 60er-, 70er-Jahren entwickelte.“ Und sozusagen das Rind mit seinen Meridianen kartografierte.

Ein Generationswechsel

„In etwa ein bis zwei Prozent der Rinderbetriebe in Schleswig-Holstein werden die Kühe mit Akupunktur behandelt“, berichtet Hauswirth aus ihrer Erfahrung. Häufig seien es Ökobauern – oder es habe ein Generationswechsel in den Betrieben stattgefunden, „und die jungen Bauern finden sich nicht damit ab, dass Antibiotika der Weisheit letzter Schluss sind“.

Wird sie selbst zur Behandlung in den Stall gerufen, so unterscheide sich der Untersuchungsgang bei der Rinder-Akupunktur nicht vom dem bei anderen Tieren. „Ich streiche die Punkte am Körper des Tieres ab, die mir Auskunft über mögliche Probleme geben, weil sie druckdolent sind.“ Die Untersuchung mit Anamnese dauert in der Regel nur etwa zehn Minuten – „denn Landwirte sind nicht so gesprächig wie viele Kleintierbesitzer“. Da müsse man sich mit einem kurzen „Sie lahmt hinten“ begnügen, berichtet Hauswirth, die nicht mehr konventionell-schulmedizinisch praktiziert. Dafür sendet ihr die Kuh eindeutige Signale: „Das ,De Qi‘ – die Reaktion des Patienten auf die Nadelung, die dem Therapeuten zeigt: Der richtige Punkt wurde getroffen! – spürt und sieht man bei Kühen sehr deutlich.“ Sie reagieren sehr gut auf die Akupunktur, häufig besser als Kleintiere. „Sie entspannen dann ihre Muskeln, lassen den Kopf sinken oder wedeln mit dem Schwanz. Sie sind eben überhaupt nicht dickfellig!“, so Hauswirths Erfahrung.

Die Akupunktur finde immer mehr Akzeptanz bei den Landwirten, weil „der Tierarzt seltener kommt und weniger Medikamente verordnet werden müssen“, so Hauswirth. Denn bei Nutztieren steht das Kosten-Denken im Vordergrund, viel stärker als bei Besitzern von Kleintieren. „Bei Nachgeburtsverhalten muss eine Nadelung sofortige Wirkung zeigen, das ist der Normalfall. Andere Leiden werden spätestens nach dreimaliger Behandlung deutlich besser – und falls nicht, habe ich damit ein Problem.“

Von der Wirkung der Nadeln in der Haut – sofern der fachkundige Tiertherapeut die richtigen Punkte trifft – profitieren auch Pferde, Hunde und Katzen. „Was mich an der Akupunktur faszinierte, waren die schnellen Erfolge“, sagt Tierheilpraktikerin Tina Doxtader aus Loxstedt bei Bremerhaven. „Eine Lahmheit bei Hund oder Pferd, die keine chronischen Ursachen hat, kann durchaus binnen eines Tages verschwunden sein. Es geht den Tieren sehr schnell besser.“ Sie sei oft effizienter einzusetzen, als die Homöopathie mit ihren 4.000 Mitteln.

Die Haustier-HalterInnen kommen in ihre Praxis und fragen gezielt nach der Methode, „weil sie im Kopf haben: Akupunktur hilft gegen Schmerzen“. Seit 14 Jahren praktiziert Doxtader als Tierheilpraktikerin, spezialisiert hat sie sich auf Pferde, behandelt auch häufig Hunde und Katzen. „Zu mir kommen die chronisch Kranken, die oft als austherapiert gelten. Ältere Hunde mit Arthrosen, Hüftgelenksdysplasien oder Wirbelsäulenerkrankungen wie Spondylose“, sagt sie. Heilen kann auch sie zerstörtes Gewebe nicht, aber die Schmerzen lindern, die die Tiere quälen.

Über drei bis vier Wochen kommen solche Schmerzpatienten ein- bis zweimal die Woche zum Nadeln, später seltener. Das Ziel: „Zwei Behandlungen pro Jahr sollen dann ausreichen.“

Blutegel statt Nadeln

Besonders bei Arthrosen setzt die Tierheilpraktikerin auf eine spezielle Form der Akupunktur – die Hirudo-Punktur. Statt Nadeln setzt sie Blutegel (Hirudo medicinalis) auf die Akupunkturpunkte. „Die Wirkung ist um vieles größer“, sagt sie. Denn die Egel stimulierten nicht nur das Qi, sie geben auch Stoffe an das Blut des Patienten ab. In der Saliva, der „Egelspucke“, sind bis zu 100 Substanzen enthalten, die entzündungshemmend oder gefäßerweiternd wirken, die Durchlässigkeit der Zellwände erhöhen, so dass Wirkstoffe leichter in das Gewebe eindringen können.

Für den Therapieerfolg setzt Doxtader auf einen interdisziplinären Ansatz: „Ich arbeite eng mit Tierärzten in der Region zusammen, werde häufig dazugerufen, oder man schickt die Halter zu mir. Wir pflegen einen engen Dialog und netzwerken auch mit Tierchiropraktikern und -psychologen.“ Auch bei seelischen Problemen setzt sie ihren Patienten Nadeln: „Ein Pinguin litt unter starker Traurigkeit, seine Pinguin-Gefährtin war verstorben.“ Sie setzte ihm eine Nadel seitlich der linken Flügelspitze, auf den Punkt Herz 9: „Er tonisiert, belebt den Herz-Meridian und hilft gegen Trauer und seelische Schockzustände.“