Diese souveräne Hilflosigkeit des Schreibens

LEBENSGESCHICHTEN Nichts ist seltsamer als die Realität: „Alles ist wahr“ von Emmanuel Carrère

Carrère möchte der Willkür des Schicksals durch sein Schreiben etwas entgegensetzen

VON ULRICH RÜDENAUER

Emmanuel Carrère hat ein Faible für das Ungeheuerliche, ein Gespür für die Wahnsinnigen, die durch die Gegenwart stolzieren und stolpern und sich uns auf beängstigende Weise entziehen. In mehreren Erzählungen ist der 56-jährige französische Schriftsteller solchen Figuren in ihren Kosmos gefolgt, hat versucht, ihr Hirn vor uns aufzuklappen und hineinzuschauen.

Sein Buch „Amok“ erzählte vom Fall des Jean Claude Romand, der über Jahre hinweg ein Doppelleben führte, seiner Umgebung vortäuschte, ein angesehener Mediziner zu sein, und schließlich, als alles aufflog, seine Familie auslöschte. In „Limonow“ wiederum näherte er sich dem egomanischen Schriftsteller Eduard Limonow, einem Weltreisenden, schlachterprobten Legionär und wüsten Nationalisten, den Carrère in den achtziger Jahren in Paris kennengelernt hatte und von dem er augenscheinlich so fasziniert war, dass er ihm eine Biografie widmete.

Allerdings: „Limonow“ eine klassische Biografie zu nennen wäre nicht ganz richtig. Emmanuel Carrère spricht, wenn er von anderen handelt, immer auch über sich. Seine Geschichten stehen allesamt auf dem Boden der Tatsachen, aber er erzählt diese Fakten wie einen Roman. Die literarischen Reportagen von Carrère scheinen dort ihren Anfang zu nehmen, wo andere enden oder sich nicht hintrauen: an den Abgründen ihrer Protagonisten. Und sie stürzen sich zuweilen mit ihnen tief hinab ins Dunkel der Seele.

Der Name Dostojewski fällt immer wieder, wenn Carrère von seinen Vorbildern redet. In Interviews taucht auch Truman Capote auf – der Capote, der sich und seine Helden im Doku-Roman „Kaltblütig“ um Kopf und Kragen schrieb und damit ein Meisterwerk schuf. „Nonfiction“, so nennt man, auch in Ermangelung eines besseren Begriffs, das Genre, in dem sich Carrère seit geraumer Zeit erfolgreich bewegt. Er tut das ohne Rücksicht auf Verluste: Weder schont er die, über die er schreibt, noch sich selbst. Und auch den Leser behandelt er mitunter nicht sorgsam. Es muss kaum betont werden, dass diese nichtfiktionalen Texte oftmals gehörig stranger than fiction sind.

Sein jüngstes auf Deutsch erschienenes Buch heißt dementsprechend „Alles ist wahr“. Fast ist das ein bisschen zu plakativ. Es beginnt mit einem Satz, der in sich das unfassbare Ereignis trägt, über das auf den nächsten Seiten gesprochen wird. Und der auch bereits den Keim einer Läuterung beinhaltet: „Ich weiß noch, dass Hélène und ich in der Nacht vor der Welle davon gesprochen haben, uns zu trennen.“

Der Ich-Erzähler, also Emmanuel Carrère selbst, ist mit seiner neuen Freundin Hélène sowie zwei Kindern aus vorangegangenen Beziehungen im Urlaub auf Sri Lanka. Es ist Anfang 2004, und nur ein Zufall bewahrt sie davor, nicht von der zerstörerischen Tsunami-Welle im Indischen Ozean erfasst zu werden. Carrère schildert die Tage, die auf die Katastrophe folgen, vor allem die Begegnung mit einem französischen Paar, das aus dem Paradies vertrieben wird, seine kleine Tochter verloren hat. Es ist ein Höllentrip durch Krankenhäuser und die überall eingerichteten Leichenschauhäuser, und es ist eine Zeit der inneren Wandlung: Am Ende dieser Reise steht für Carrère und Hélène der Entschluss, sich keinesfalls zu trennen, sich nie wieder zu trennen.

Zurück in Paris, ereilt die beiden eine weitere Hiobsbotschaft, die Carrère mit der Katastrophe auf Sri Lanka in ihrer existenziellen Dimension verknüpft: Juliette, die Schwester von Hélène, ist – zum zweiten Mal – schwer an Krebs erkrankt. Sie, die Richterin in der Provinz ist und dort mit dem ebenfalls vom Krebs gezeichneten Kollegen Étienne mit ihren Urteilen im ganzen Land für Furore gesorgt hat, stirbt wenig später, nur 33 Jahre alt. Sie hinterlässt drei kleine Kinder – und eine Lebensgeschichte, die Carrère aufschreiben will.

Als er Hélène von diesem Projekt erzählt, kann sie ein Lachen nicht zurückhalten: „Ich finde dich komisch. Du bist der einzige Typ, den ich kenne, der imstande ist zu glauben, die Freundschaft von zwei lahmen, krebskranken Richtern, die im Amtsgericht von Vienne Überschuldungsakten durchackerten, sei ein dankbares Thema. Sie gehen nicht mal miteinander ins Bett und zum Schluss stirbt sie. Habe ich richtig zusammengefasst? Ist das die Geschichte? Ich habe genickt: Ja, genau.“

Carrère recherchiert. Er führt Gespräche mit Étienne, mit Juliettes Ehemann Patrice, er vertieft sich in das Studium von Akten, macht sogar ein Praktikum am Gericht. Über viele Seiten hinweg verliert er sich in juristischen Fachfragen, um dem Vermächtnis Juliettes gerecht zu werden. Vielleicht sind diese Passagen zu ausführlich geraten, vielleicht führen sie ein wenig zu weit weg vom Kern dieses Buches. Aber doch verliert man dieses Zentrum nie aus den Augen: Carrère möchte der Willkür des Schicksals durch sein Schreiben etwas entgegensetzen. Das ist ein Akt der Souveränität, wie es zugleich einer der Hilflosigkeit ist; diese Spannung macht das Buch zutiefst durchlässig und irritierend direkt.

Da lernt ein von wirklich erschütternden Erfahrungen bislang wenig heimgesuchter Mann um die 50 durch Krankheit und Tod etwas über das Leben. Und über die Liebe. Und fast klingt die Lehre, die er daraus zieht, arg kitschig – endlich nämlich weiß der, dem alles zugefallen ist und der nie sehr talentiert darin war, Beziehungen zu führen, die Gegenwart zu schätzen.

Wäre es ein Roman, müsste man wohl sagen: Es ist ein bisschen zu viel des Guten – zu viel Unglück, zu viel Krebs, zu viel Erkenntnis. Aber hier ist eben alles wahr, soweit ein durch den Wahrnehmungsfilter eines professionellen Schreibers gesiebtes Leben nur wahr sein kann. Sprechen wir also lieber von Wahrhaftigkeit. Und tatsächlich: Man ist berührt von dem, was Carrère zu erzählen hat. Man ist auch erschüttert. Und ein bisschen demütig. Denn man erkennt mit dem Autor und einigem innerlichen Pathos, „wie zerbrechlich das ist“, das Glück und die Liebe.

Emmanuel Carrère: „Alles ist wahr“. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz, Berlin 2014, 247 Seiten, 19,90 Euro