„Das Drama der menschlichen Existenz“

Was treibt die Besucher auf das Oktoberfest in München? Was suchen die Trinker im Rausch? Wie viele Menschen sind eine Gaudimasse? Die Psychologin Brigitte Veiz hat das größte Trinkgelage der Welt erforscht – und gibt Antworten

INTERVIEW MONIKA GOETSCH

taz: Frau Veiz, Sie haben auf der Wiesn sozialpsychologische Feldforschung betrieben. Wie oft waren Sie da?

Brigitte Veiz: Seit vierzehn Jahren fast jeden Wiesntag. Ich bin ja erklärter Wiesnfan. Aber ich gehe nicht nur zum Feiern hin, sondern auch zum Beobachten. Für mich ist die Wiesn das Drama der menschlichen Existenz auf kleinstem Raum. Man sieht einfach alles: Tränen, Anbandelungen, Ausgelassenheiten, Verliebtheiten, Schlägereien …

Und hinterher dann, im Vorgarten, die Verwüstung.

Ich hab schon einige Herren mit Lederhose in unserem Hinterhof gefunden, die meinten, sie müssten sich im Blumenbeet erleichtern. Die schmeiß ich natürlich raus, wobei ich durchaus freundlich bleibe. Das ist halt der Preis, wenn man in der Nähe vom Oktoberfest wohnt. Und ich wohne gerade so nah, dass ich vom Balkon aus die Achterbahn hören kann und die Bratwürste riechen und die gebrannten Mandeln. Die ganze Oktoberfestatmosphäre schwappt rüber in meine Wohnung.

Was hat es denn mit dieser Atmosphäre auf sich?

Rauschhaft ist die, sinnlich, erotisch, ausufernd wie die Dionysien, die Feste der alten Griechen. Platon hat übrigens ein sehr treffendes Bild für die Maßlosigkeit gefunden und die Gier, die den Menschen beherrschen kann: Er sprach von leeren Krügen ohne Boden. Was oben eingefüllt wird, geht gleichzeitig unten verloren. Die Gier kann grenzenlos sein, auch auf dem Oktoberfest.

Und wer die Gier nicht beherrscht, landet unterm Tisch.

Oder oben, auf der Schwanthalerhöhe, im Gras. Aber nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht. Die Medien zeigen ja oft nur das Außergewöhnliche. Die Raufereien, die es nur noch ganz selten gibt, besondere Freizügigkeiten. Dadurch entsteht ein ganz falsches Bild von der Wiesn. Ich gebe zu: Manche betrinken sich bis zum Umfallen. Junge Leute, die Trinken cool finden und später unter den Tisch kotzen. Oder diese Kampftrinker, die schauen wollen, was alles reingeht. Meistens kommen die in Gruppen von außerhalb. Den Rausch zu beherrschen dagegen heißt, ihn zu reiten „wie eine Welle“. Eigentlich bräuchte man eine Anleitung, mit so einem Rauschmittel wie Bier richtig umzugehen. Und mit der Wiesn. Die Wiesn zu genießen, nicht zu viel zu trinken und, das ist nämlich auch fatal, nicht zu viel zu essen, ist eine echte Kunst.

Und diese Kunst beherrscht der Einheimische aus dem Effeff?

Wenn, dann er. Der gestandene Bayer, der an die Wiesn gewöhnt ist. Der sich sagt: Ich will meine Wiesn genießen. Der nach einer Maß Bier was isst und eine Maß Alkoholfreies dazwischenschiebt und dann den ganzen Tag dort bleibt, leicht bedudelt, vielleicht in der Spätsommersonne, und es sich gut gehen lässt.

Warum für diese Beschaulichkeit nicht einfach in den Biergarten gehen? Da ist es nicht so laut, nicht so teuer, nicht so voll …

Gerade die Größe des Fests und die Masse der Menschen macht ja das Erlebnis aus. Die Fußball-WM war so eine Gaudimasse. Der Papstbesuch hat die Menschen in Massen zusammengeführt. Und auch beim Oktoberfest ist die Masse Teil der rituellen Struktur. Auf der Wiesn ist alles überdimensional. Wenn 10.000 Leute in einem Bierzelt zusammen feiern, hat das eine enorme Energie. Dann hupfen sie auf die Bänke, tanzen sozusagen auf den Tischen, teilen Bier und Brezn in einer Art Kommunion, singen gemeinsam diese Wiesnlieder, die immer von Sehnsucht und Heimat und Erotik handeln, das Lied vom „Anton aus Tirol“ zum Beispiel oder dieses „völlig losgelöst von der Erde“ oder „oa Maß geht no nei“ – das verbindet die Menschen wie die Lieder beim Gottesdienst.

Und die Lieder sind Ausdruck eines Mangels?

Ja, auch. Im Rausch offenbaren sich die tiefsten Sehnsüchte. Nach mehr Liebe und Erotik, mehr Zugehörigkeit und Heimat, mehr Himmel. Man streckt ja die Hände nach oben. Bewegt sich in einem gemeinsamen Rhythmus. Als wolle man sich aus dem eigenen Körper lösen.

Warum das?

Natürlich sagt außer mir keiner, dass er auf die Wiesn geht, um einen transzendenten Rausch zu erleben. Aber unbewusst regiert genau dieser Wunsch, der Wunsch nach Verschmelzung mit dem Göttlichen. Denn viele haben ein dunkles Loch in der Seele, das sie füllen wollen, eine Verletzung, einen Mangel an Zuwendung, Gemeinschaft und Liebe. Keiner hat die perfekten Eltern, den perfekten Arbeitsplatz, die perfekten Umstände, der Alltag mag grau sein, die Beziehung abgenutzt, man wird gemobbt, die Arbeitslosigkeit droht …

Wenn es um Spiritualität geht, wäre man in der Kirche doch besser aufgehoben als im Bierzelt.

Aber die Kirchen sind asketisch geworden und wenig sinnlich. Alles Rauschhafte, Entgrenzende, Erotische, die Feier der Sinnlichkeit und Fruchtbarkeit, die die alten Kulturen pflegten, liegt den Kirchen heutzutage fern.

Beim Oktoberfest läuft der Rausch allerdings nicht gerade auf etwas Göttliches zu.

Stimmt. Das Spirituelle fehlt. Dennoch hat das Oktoberfest rituellen Charakter. Jahr für Jahr, am selben Ort, für einen begrenzten Zeitraum darf man sich, gekleidet in Dirndl und Lederhose als Ritualgewand, von seiner „Selbstzwangapparatur“, wie Norbert Elias das nennt, befreien. Es ist ja so: Wir sind kultiviert – und haben darum ganz viel körperliche und sinnliche Freiheit verloren. Im Mittelalter rülpste und furzte man am Tisch, aß mit den Händen und schnäuzte sich ins Tischtuch. Heute unterliegen wir kulturellen und gewaltigen gesellschaftlichen Zwängen. Unsere Urtriebe sind unterdrückt. Aber sie verlangen danach, wie Sigmund Freud schreibt, ausgelebt zu werden.

Und das offenbar ziemlich heftig.

Einmal im Jahr, ja. Während des Oktoberfests ist plötzlich alles in einer barocken Überfülle erlaubt, noch dazu erlaubt von ganz oben, denn die Oberhäupter von Stadt und Land eröffnen ja das Fest mit ihrem „O’zapft is“ und eröffnen das rauschhafte Fest. Von einem Tag auf den anderen darf man sich diesen pseudosakralen Ritualen hingeben, sich vereinigen mit den Massen, schunkeln, singen, Brezn- und Hendlreste untern Tisch fallen lassen und Maßkrüge zerdeppern, man kann einen Mann an die Lederhosen greifen und einer Frau tief in den Dirndlausschnitt schauen – Dirndl und Lederhose betonen ja sehr günstig Weiblichkeit und Männlichkeit. Übergriffe aller Art sind erlaubt. Das ist eine Befreiung der Sinne und der Seele.

Nicht für jeden.

Es braucht schon einen bestimmten Menschentyp. Wahrscheinlich kann das Oktoberfest so auch nur in Bayern statt finden. Manchen ist die Erotik dort zu rustikal und zu direkt und zu deftig. Besonders feinsinnig geht es auf der Wiesn ja wirklich nicht zu. Man kann auch Angst haben vor den Menschenmassen und der Lautstärke. Aber wer die Wiesn liebt, tankt richtig Kraft auf in den zwei Wochen. Hier kann man „richtig“ männlich sein oder „richtig“ weiblich, erotisch, ausgelassen, auch mal besoffen oder überfressen, egal. Das ist eine Befreiung. Man darf seine sinnlichen Bedürfnisse ausleben und dabei über die Stränge schlagen, ohne negative Konsequenzen. Manche finden ein Stück Heimat, andere laden ihre Batterien auf für ein ganzes Jahr.

Und nach zwei Wochen kehrt jeder in den alten Alltag zurück.

Wo es keine Dirndlrüschen gibt und nix Buntes, nur Gradlinigkeit und die Pflicht zum Erfolg in einer globalisierten Welt. Ja, das ist schon eine Ernüchterung. Umso bedauerlicher, dass den Wiesnabenden und dem Ganzen ein würdiges Abschlussritual fehlt. Der ganze Abend läuft ja auf etwas hin, auf einen Höhepunkt, eine Erfüllung auf dem Gipfel des Rausches. Aber da, wo man im Rausch Erfüllung finden sollte, wo bei einem ekstatischen Ritual das Transzendente sich zeigen würde, hört einfach die Musik auf. Das Licht wird heller. Dankeschön, heißt es. Bis morgen. Die Bedienungen putzen die Tische, und raus geht’s. Da stürzen manche wirklich ab. Man geht heim, hat mit Glück jemanden getroffen, der mitkommt, manche kippen noch zwei Schnäpse, streiten sich, lieben sich oder sinken als Bierleiche am Fuße der Bavaria nieder.

Und haben den Kater danach.

Vielleicht. Aber auch das ist natürlich Typsache.

Sie selbst neigen nicht zum Kater?

Ich trink ja nicht viel. Aber psychisch bin ich schon verkatert, wenn alles rum ist. Und bedauere, dass die Zeit vorbeigeht. Wenn das Wiesngefühl weg ist, sind die sozialen Schranken ja wieder da. Der Professor ist wieder Professor und der Handwerker wieder Handwerker. Die Verbrüderung löst sich auf. Die Ernüchterung ist da. Aber ich finde auch gut, dass es rum ist. Würde man die Triebe immer laufen lassen, hätten wir keine Kultur, sondern Chaos. Ein endloser Rausch ist keiner mehr. Abgesehen davon: Man könnte die Wiesn auch nicht länger als zwei Wochen durchstehen.