Kickern erleichtert den Anschluss


AUS DÜSSELDORF HENK RAIJER

Zenel Smail gibt keinen Ton von sich, aber das ältere Paar draußen im Gang hört und versteht ihn gut. Der 19-Jährige mit dem weißen Baseballkäppi auf dem Kopf deutet auf seine Kumpels am Kicker vorne im Raum und erklärt den beiden hinter der Glasfront, was es mit der neuen „Kneipe“ im Bahnhof auf sich hat. Dabei fliegen seine Arme und Hände hin und her, mal fasst sich Zenel Smail mit der Rechten am Herzen, mal touchiert er mit gespreizten Fingern die noch bartlosen Wangen seines Gesichts. „Alles klar?“ scheint er zu fragen. Die beiden Passanten antworten ihrerseits gestenreich und verabschieden sich in Richtung Schließfächer.

Im neu eröffneten Warteraum für Gehörlose und Schwerhörige im Düsseldorfer Hauptbahnhof herrscht lebhafte Stille. Seit dem 1. September treffen sich hier in den Nachmittagsstunden Jugendliche von Rhein und Ruhr, um Freunde zu treffen, zu quatschen und – ganz nebenbei – auf ihren Anschluss zu warten.

Angestoßen hat das bundesweit einzigartige Projekt die Rheinische Förderschule für Hören und Kommunikation in Düsseldorf-Gerresheim. Deren Schüler legen weite Wege zurück, das Einzugsgebiet der Gehörlosenschule in der Landeshauptstadt reicht von der niederländischen Grenze bis tief ins Ruhrgebiet oder ins Bergische Land hinein. Freunde finden gehörlose Kinder und Jugendliche wegen der Sprachbarriere in aller Regel nur in der Schule, am Wohnort eher selten.

Kein Wunder also, dass Bahnhöfe als Treffpunkt schon Tradition haben. „Der Bahnhof ist für Gehörlose schon immer ein Ort der Begegnung gewesen“, erklärt Regina Klippel, Mitarbeiterin der diakonischen Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung Educon, Träger des Projekts. „Hier kreuzen sich ihre Wege, am Bahnhof treffen die Jugendlichen auf Menschen, mit denen sie sich in ihrer ‚Muttersprache‘ unterhalten und gemeinsame Unternehmungen planen können“, sagt Klippel, die für Educon die Kommunikation zwischen Warteraum, Schule und Integrationsfachdienst koordiniert.

Unterstützt wird das zunächst auf drei Jahre angelegte Pilotprojekt von der Aktion Mensch, der Stiftung Wohlfahrtspflege, der Kämpgen-Stiftung Köln, McDonald‘s und der Deutschen Bahn, die den 32 Quadratmeter großen Raum im zentralen Quergang des Düsseldorfer Hauptbahnhofs mietfrei zur Verfügung stellt. „Es ist ein guter Raum, schon allein wenn man bedenkt, welchen Einflüssen die Jugendlichen heute durch Alkoholkonsum und Drogenhandel im Bahnhof ausgesetzt sind“, erklärt mit Hilfe eines Gebärdensprache-Dolmetschers Konrad Regler, einer von drei Educon-Angestellten, die sich die Betreuungsarbeit im neuen Warteraum gegenüber der Bahnhofsmission teilen. Der 38-jährige Erzieher, der das Projekt ein Jahr lang mit aufgebaut hat, ist selbst gehörlos. Von daher weiß er um die Bedeutung eines geschützten Raumes, in dem sich Gehörlose ungehemmt unterhalten können.

„Affensprache“

Ebenso bewusst ist Regler aber auch die Bedeutung der Gebärdensprache, die er selbst in seiner Jugend nicht sprechen durfte, weil sie als „Affensprache“ galt und von Pädagogen streng sanktioniert wurde. Das sei heute zum Glück anders. „Würden wir hier nicht gebärden, wären die Jungs da längst weg“, sagt der hagere Mann mit dem blonden Bart und der randlosen Brille, während er auf Zenel Smail und seinen Freund Arsen Berisha deutet, die am Laptop hocken und den Stellenmarkt durchforsten.

Und das ist nicht gerade einfach für gehörlose Jugendliche, deren Familien erst seit wenigen Jahren in Deutschland leben und die nach wie vor große Leseschwierigkeiten haben. „Die meisten Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben, wenn sie erst die Hauptschule beendet haben, kaum eine Chance, einen Ausbildungsvertrag oder einen Job zu bekommen“, weiß Konrad Regler aus eigener Erfahrung; auch von seinen früheren Kollegen sei heute die Hälfte ohne Arbeit. Zenel Smail, der vor fünf Jahren mit seiner Familie aus Skopje nach Deutschland kam und zwei hörende Brüder hat, würde gern als Autolackierer arbeiten. Wenn Zenel, der früher von Kleve zur Förderschule nach Düsseldorf gependelt ist und heute in Düsseldorf lebt, bei seinem Sachbearbeiter in der Arbeitsagentur vorspricht, dolmetscht sein Vater. „Der beherrscht die deutsche Gebärdensprache nicht, aber ich lese ihm das Albanische von den Lippen ab und antworte mit Gesten und Lauten“, bedeutet Zenel Smail.

„Die gehörlosen Jugendlichen ausländischer Herkunft haben oftmals in ihrer Heimat keine Gebärdensprache gelernt“, sagt Stephan Hehl, den Educon in Düsseldorf als Dolmetscher einsetzt. „Es sollte unbedingt auch das Sprechen eingeübt werden“, meint daher der 37-jährige Germanist, der vor zehn Jahren eine Zusatzausbildung als Gebärdensprache-Dolmetscher absolviert hat. Zwar würden auch deutschstämmige gehörlose Jugendliche keine perfekten deutschen Sätze sprechen, aber sie könnten sich verständlich machen. „Die bilinguale Methode bietet ihnen zumindest die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten wie hörenden Menschen“, sagt Hehl, der an diesem Nachmittag beim Gespräch mit Zenel und seinem Freund Arsen nicht nur einmal nachhaken muss. „Jugendliche Gehörlose gebärden anders als erwachsene“, erklärt Hehl mit einem entschuldigenden Lächeln. „Gerade Jungs ausländischer Herkunft haben noch mal einen ganz anderen Wortschatz.“

Mädchen lassen sich nach dem Geschmack der vorwiegend „ausländischen“ Jugendlichen im neuen Warteraum bislang viel zu wenig blicken. „Die gucken schon mal rein, bleiben aber nicht, während die Jungs hier oft stundenlang zusammen kickern oder am Computer spielen“, sagt Betreuer Konrad Regler, während er in der nagelneuen Küchenecke hinten im Raum einen Tee kocht. „Die unterliegen einfach einer strengeren Kontrolle als Jungs, Mädchen müssen meist unmittelbar nach der Schule nach Hause.“ Auch an diesem Tag kommen und gehen fast ausschließlich junge Männer. Nicht wenige meiden allerdings den Kicker am Schaufenster und gehen gezielt in den hinteren, etwas weniger hell beleuchteten Teil des Treffpunkts.

Auf dem Präsentierteller

Arsen Berisha, dem zu Hause langweilig ist und der sich hier neuerdings häufig mit seinem ebenfalls albanischstämmigen Freund Zenel zum Kickern trifft, fühlt sich im neuen Warteraum ein wenig wie auf dem Präsentierteller. „Ein bisschen peinlich ist mir das schon mit dem riesigen Fenster“, sagt der schlanke junge Mann mit dem modisch geschnittenen schwarzen Haar, der 1991 als Kind aus dem Kosovo nach Düren kam, später täglich nach Düsseldorf zur Förderschule fuhr und nun seit vier Monaten in dieser Stadt lebt. Schließlich wunderten sich viele Passanten über die wild gestikulierenden jungen Leute in dem hellen Raum zwischen den Schließfächern. „Sie bleiben stehen und gaffen“, äußert der 24-jährige Arbeitslose, der wegen einer Allergie eine Ausbildung zum Lackierer abbrechen musste, sein Unbehagen. „So mancher Gehörlose kommt vielleicht gar nicht erst hier rein, weil es zu offen ist.“

In der Regel bleiben die Jugendlichen und ihre Betreuer unter sich. Außer einem gelegentlichen Alkoholkranken auf der Suche nach dem Klo fasst sich nur selten ein Hörender ein Herz und betritt den Raum. „Den ersten Schritt zu tun, erfordert ja auch Mut“, weiß die Sozialarbeiterin Nadja Alibane. Obwohl es, wenn Hörende dies wirklich wollten, durchaus Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und der Verständigung gebe, sagt die 32-Jährige, die zum Abend hin ihren Betreuerkollegen im Warteraum abgelöst hat. „Kurze Sätze, kein Dialekt, Kaugummi raus und Männer möglichst ohne Vollbart – schon versteht eine Gehörlose, was ein Hörender von ihr will“, erklärt die braun gelockte, zierliche Frau, die von Geburt an stark schwerhörig ist, aber über die Jahre die Laut- wie auch die Gebärdensprache erlernt hat.

An Offenheit lässt der neue Warteraum kaum zu wünschen übrig, Nadja Alibane hält die Tür weit auf. Doch draußen eilen die Berufspendler zu ihren Bahnsteigen, keiner hält inne und beachtet die Leute im Schaufenster. Der Kicker bleibt verwaist.

Der neue Warteraum für Gehörlose und Schwerhörige im Düsseldorfer Hauptbahnhof hat montags bis freitags von 13.30 bis 19.30 Uhr und samstags von 14.00 bis 18.00 Uhr geöffnet.